Page - 389 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Mit einem ›e‹
Bei aller Bewunderung der literarischen Leistungen von Roth bleibt bei Morgen-
stern eine theoretische und persönliche Reserve zu dem „Landsmann“ unverkennbar.
Und dieser Vorbehalt betrifft ganz augenscheinlich die jüdische Identität. Mehrfach
kritisiert Morgenstern Roths Neigung zur vollständigen Assimilation an das jeweils
Fremde und Andere und spricht in diesem Zusammenhang auch einmal von „einer
zum Glück versäumten Gelegenheit“. Morgenstern, selbst kein unkritischer Zionist,
vielleicht sogar kein Zionist, sieht in Herzls politischer Bewegung nicht nur eine
„physische Rettungsaktion“ des europäischen Judentums (das ist eine Position, die
Roth mit ihm geteilt hat), sondern auch eine Rettung des geistigen Grundbestands
insbesondere des orthodoxen Judentums, dem Morgenstern entstammt und dem er
sich, ungeachtet seines säkularen Modernismus, zutiefst verbunden fühlt. Seine struk-
turell konservative Identitätsposition ist von der Idee der Treue zur eigenen Tradition
geprägt : „Alle vernünftigen Jerusalemer waren, etwa 500 Jahre vor Christo, wütend
auf die Propheten, die jede militärische oder diplomatische Aktion unmöglich mach-
ten. Und doch wie schade wäre es, wenn diese erhabenen Thoren in ihrem Thun ge-
hindert worden wären ! Jerusalem wäre dann etwas länger die Hauptstadt eines unbe-
deutenden Staates geblieben, die Religionsstadt der Menschheit aber wäre es niemals
geworden“, kommentiert Morgenstern das damals einflussreiche fünfbändige Werk
von Ernest Renan, das sich Roth bei ihm ausgeliehen haben soll.
Genau um diese Frage, ob der Zionismus imstande sei, die universale Erbschaft des
Judentums anzutreten und weiterzutragen, geht es in der Kontroverse zweier Freunde.
Morgenstern und Roth sind sich über die rettende Funktion des Zionismus einig.
Während aber Roth zum Freund von „einer zum Glück versäumten Gelegenheit“
spricht, interpretiert Morgenstern den Zionismus skeptisch, letztlich aber positiv als
eine „Assimilation an den Nationalismus der europäischen Völker“, als eine gerade
vom Ostjudentum kräftig unterstützte „jüdische Wiedergeburt“. Der Zionismus be-
deutet aber Morgenstern zufolge nur deshalb eine Rettung, weil er „neben den Zio-
nisten auch die frommen orthodoxen Juden gerettet hat“. Dabei geht es nicht allein
um das physische Überleben einzelner Menschen. Es geht um das ›e‹, weil es den
geistigen Kern des Judentums repräsentiert, das den selbstbewussten Juden vom ge-
schmähten Jud’ zu unterscheiden vermag.
Roth wiederum verbindet die jüdische Tradition der Diaspora mit einer anderen
Form des Exils : nämlich jener, Bürger eines nicht mehr existenten multiethnischen
Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Das journalistische Werk 2, Köln 1990, S. 836.
Ernest Renan, Geschichte des Volkes Israel, deutsche autorisierte Ausgabe, übersetzt von E. Schaelsky,
Berlin 1894, S III, 2f ; vgl. Soma Morgensterns Kommentar in : Soma Morgenstern, Joseph Roths Flucht
und Ende. Erinnerungen, Lüneburg 1994, S. 34.
Morgenstern, Flucht, S. 35.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519