Page - 395 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Image of the Page - 395 -
Text of the Page - 395 -
Mit einem ›e‹
andere Wahl, als sich Palästina anzueignen, das rechtfertigt für Roth ihr Recht auf
dieses Land ; aber zugleich werden sie damit zum „Objekt oder ahnungsvollen Voll-
strecker europäischer Politik“- heute, in der Ära des Postkolonialismus, müßte man
wohl sagen us-amerikanischer Politik. An einer Stelle spricht Roth gar von einem
„jüdischen Kreuzzug“. 0
Damit dreht sich das Bild um : Die in die Defensive gedrängten Araber, die auf
überraschende Weise den Ostjuden ähneln, werden zu „Naturmenschen“, die sich
„gegen den Einbruch einer angelsächsisch-amerikanischen Zivilisation“ wehren, die
im Namen der nationalen jüdischen Wiedergeburt nach Palästina gebracht wird. Wie
prophetisch und brisant eine solche Position gerade heutzutage ist, braucht nicht
eigens betont zu werden. Die trotz aller Melancholie kühle Diagnose Roths mitsamt
ihrer unerschrockenen Ambivalenz kann freilich nicht als Fantasterei eines Unpoliti-
schen oder eines versoffenen Monarchisten abgetan werden (wie das jüngst in einer
Rezension geschehen ist), sondern beweist gerade ein Sensorium für die Mehrdimen-
sionalität eines Geschehens, das es so schwer macht, eindeutig Position zu beziehen
und sich auf eine Identität zurückzuziehen.
Roth formuliert diese Uneindeutigkeit in jenem so beiläufigen wie wuchtigen Satz : „Es
ist gewiss nicht der Sinn der Welt, aus ‚Nationen‘ zu bestehen.“ Das ist auch als Appell
an eben jene „Wirtsvölker“ anzusehen, die bisher keine „innere Freiheit“ erlangt haben,
vermutlich, weil sie die Erfahrung der Diaspora nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Die Ursache für Roths Ablehnung des Zionismus hat mit zwei Momenten seines Den-
kens und Schreibens zu tun, die nicht ursächlich mit der jüdischen Herkunft zu tun
haben : zum einen ist das seine Ablehnung der Moderne in nahezu all ihren politischen,
gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen, die Politik und die Existenzweise viel-
leicht ausgenommen. Am forciertesten hat Roth diese Kulturkritik in seinem pamphlet-
artigen Essay Der Antichrist vorgetragen, der sich des Narrativs einer apokalyptischen
Fortschrittskritik bedient. Der Zionismus ist für Roth auch deshalb obsolet, weil er die
moderne, westlich-kapitalistische und amerikanische Kultur und Lebensart schlechthin
verkörpert. Er ist aber auch problematisch, weil er, als plastisches Heimatangebot, Roths
pathetisch vorgetragener Heimatlosigkeit, „Hybridität“, zuwiderläuft, Thema von Ro-
manen wie Hotel Savoy (1924), Flucht ohne Ende (1927) oder Tarabas. Ein Gast auf dieser
Erde (1934). Das Judentum Osteuropas wird aufgrund einer dramatischen historischen
Situation zur schärfsten symbolischen Ausformung eines ganz allgemeinen Befundes.
0 Ebd.
Ebd.
Frank Joachim Eggers, „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn“ – Modernitätskritik und Religion bei
Joseph Roth und Franz Werfel, Wien 1996, S. 78–89.
back to the
book Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519