Page - 410 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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10 Klaus Hödl
Purim bildet aber nicht nur einen Anlass zum historischen Gedenken und zur
rituellen Vergeltung, sondern zeichnet sich auch dadurch aus, dass an diesem Tag die
Welt auf den Kopf gestellt wird. Das Fest bildet die einzige Gelegenheit im jüdischen
Jahreszyklus, bei der Juden bewusst und geduldet über die Stränge schlagen, sich be-
trinken, an Völlerei erfreuen und sexuellen Ausschweifungen hingeben. Die Normen
des Alltages sind außer Kraft gesetzt, rabbinische Autoritäten ihres Einflusses entho-
ben und das Ziel von Verhöhnung.
Zwischen der historisch weit zurückliegenden Gefahr der Vernichtung, die zu Purim
mittels Verbrennen des Bildnisses von Haman „kommemorativ bewältigt“ wird, und
den zeitgenössischen Beschränkungen durch jüdische Machtinstanzen, die verlacht
werden, befindet sich das Christentum. Während eines Großteils seiner Geschichte
hatte es als Feind der Juden gegolten. Anders als bei Haman blieb die christliche Be-
drohung nicht auf die Vergangenheit beschränkt, sondern zeigt(e) sich fortlaufend.
Und ähnlich wie über Haman oder die Rabbiner, so ergoss sich zu Purim häufig auch
über das Christentum Spott und Hohn. Zwar wurden antichristliche Ausfälle in der
Regel subtiler als gegen die beiden anderen vorgebracht, aber sie waren immer noch
von „deftiger“ Qualität.
Angriffe gegen das Christentum waren seit dem frühen Mittelalter immer wieder
Teil der Purimfeierlichkeiten. Dazu gehörte u. a., dass das Bildnis von Haman auf
einem Kreuz verbrannt und somit auch ein zentrales christliches Symbol vernichtet
wurde. Ein weiteres Beispiel bildete das fingierte Auspeitschen eines nackten Juden,
während er durch die Straßen getrieben wurde. Damit wurde die Passion Christi
lächerlich gemacht.
Im fünfzehnten Jahrhundert tauchte ein neues Element zu Purim auf. Wahrschein-
lich in Anlehnung an den Karneval wurde das Maskentragen eingeführt, wodurch
Purim mit Fasching, der ungefähr zur gleichen Zeit im Jahr gefeiert wurde, vergleich-
bar wurde. 9
Das Maskieren, das Verhöhnen historischer Feinde des Judentums, und zwar nicht
nur in der Gestalt von Haman, sondern auch des Christentums, sowie eine ausge-
lassene Stimmung charakterisierten Purim im Mittelalter und in der Neuzeit. Mit
der Verbürgerlichung der Juden im neunzehnten Jahrhundert wurde das Fest zwar
„gezähmt“, und antichristliche Performances wurden weitgehend aufgegeben. Aber
es war unmöglich, eine jahrhundertealte Praxis gänzlich zu unterbinden und aus dem
kollektiven Gedächtnis zu streichen. Sie offenbarte sich punktuell immer wieder und
Elliott Horowitz, „The Rite to Be Reckless : On the Perpetration and Interpretation of Purim Violence“,
in : poetics today 15 (1994), S. 9- 54.
Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1987.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519