Page - 432 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Image of the Page - 432 -
Text of the Page - 432 -
Brigitte Dalinger
seits sicher Einfluss auf die Auseinandersetzung mit dem jiddischen Theater, das ja
eine populäre Kunstform war, andererseits muss der Terminus „Schund“ in Bezug
auf das jiddische Theater genauer erklärt werden.
Genau besehen bezeichnet „Schund“ eine bestimmte Form jiddischer Dramatik,
die aufgrund der rasanten Entwicklung dieser Theaterform entstand. Das jiddische
Theater entwickelte sich nach dessen Gründung 1876 in Rumänien durch Abraham
Goldfaden sehr schnell, es breitete sich binnen weniger Jahre und Jahrzehnte in Ost-
europa und Russland, in Westeuropa und den usa aus, um 1890 gab es in New York
bereits konkurrierende Ensembles. Die ersten Dramatiker nach Goldfaden waren
Schauspieler und Musiker, die für ihre Truppen auch schrieben und oft gezwungen
waren, jede Woche ein neues Stück zu bieten.
Goldfadens Rezept für ein wirksames Stück lautete – kurz formuliert – „A song,
a jig, a quarrel, a kiss.“ Ähnlich gingen auch seine Nachfolger vor, die teilweise
unter stärkerem Zeit- und Produktionsdruck standen. Sie nahmen ihre Stoffe aus der
Weltliteratur und -dramatik, setzten sie in ein jüdisches Milieu mit entsprechenden
Namen, und „Würzten“ mit Musik, jüdischen Bräuchen und Festen. Die Historikerin
Nahma Sandrow nannte diesen Vorgang „To ‚bake‘ plays“. „Operettas, comedies,
historical spectacles, trashy melodramas, in a word, shund – Yiddish for trash […]“
entstanden, auch „[…] overheated melodramas with big star parts […]“ .
Von etwa 1890 bis in die Zwanzigerjahre hatte das jiddische Theater seinen Hö-
hepunkt in New York, die Autoren kamen mit dem Schreiben kaum nach, einzelne
von ihnen verfassten um die zweihundert Stücke für die konkurrierenden Ensembles.
Dass viele dieser schnell geschriebenen und oft auch rasch wieder abgesetzten Stücke
im Detail nicht sehr durchgefeilt waren, ist klar. Dennoch erfüllten diese Theatertexte
ihren Zweck. Sie bildeten das Repertoire der jiddischen Theater, in ihnen wurden
aktuelle Ereignisse – oft in merkwürdigen Ausformungen – aufgenommen, sie waren
auf ihre Stars hin zugeschnitten und beim Publikum sehr populär.
Parallel zu dieser Entwicklung begannen Zuseher wie Kritiker ein anspruchsvol-
leres jiddisches Theater zu fordern, die Aneignung von Plots in melodramatischer
Form wurde mehr und mehr in Frage gestellt und abgelehnt, und die entsprechenden
Theatertexte pauschal als „Schund“ abgetan.
Vgl. David A. Brenner, „Making Jargon Respectable : Leo Winz ‚Ost und West‘ and the Reception of
Yiddish Theatre in Pre-Hitler Germany“, in : Leo Baeck Institute Year Book 42, 1997, S. 51–66, S. 61.
Stefan Kanfer, Stardust Lost. The Triumph, Tragedy, and Mishugas of the Yiddish Theater in America, New
York 2006, S. 68.
Nahma Sandrow, Vagabond Stars. A World History of Yiddish Theater, New York 1986, S. 105.
Kanfer, Stardust Lost, S. 67.
Ebd., S. 84.
back to the
book Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519