Page - 61 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
Image of the Page - 61 -
Text of the Page - 61 -
Das Zentrum formiert sich 61
Sehr viel schlechter gestaltete sich die Situation allerdings an den nicht-deutschspra-
chigen Universitäten der Monarchie, denen die Tauschoptionen des Exner-Kreises
nicht offen standen. Die tschechischsprachige Radioaktivistengemeinschaft musste
radioaktive Präparate überwiegend aus privaten Mitteln kaufen. Dementsprechend
gering blieb die Zahl ihrer eigenständigen Beiträge zur Radioaktivitätsforschung.
Tschechische Radioaktivisten rezipierten beziehungsweise kommentierten stattdessen
aufmerksam die in anderen Teilen der Monarchie und im Ausland erzielten Fort-
schritte auf dem Gebiet.156 Wie bereits erwähnt, verhinderten institutionelle Struktu-
ren in Ungarn, dass die Radioaktivitätsforschung breiter rezipiert wurde. Auch dort
fehlte es an leistungsfähigen radioaktiven Präparaten. In der Radiumstation Béla Len-
gyels, die am II. Chemischen Institut der Universität Budapest angesiedelt war, kon-
zentrierte man sich ähnlich wie in Madrid notgedrungen auf die Analyse radioaktiven
Gesteins und radioaktiver Wässer. Jüngere, ambitionierte ungarische Radioaktivisten
und Radioaktivistinnen wandten sich entweder anderen Feldern zu oder sie wanderten
in die Zentren der Radioaktivitätsforschung ab. Wien war darunter eine der ersten
Adressen.157
2.3.4 Bereitstellung radioaktiver Präparate
Das Institut für Radiumforschung hatte, anders als das Laboratoire Curie in Paris oder
Rutherfords Institut in Manchester, keinen expliziten Auftrag, den naturwissenschaft-
lichen Nachwuchs auszubilden.158 Im Bereich der Lehre nahmen vielmehr die Univer-
sität und die Technische Hochschule Wien eine starke Position ein.159 Dessenungeach-
tet promovierten unter der Anleitung Stefan Meyers, Egon von Schweidlers und ande-
rer Kollegen immer mehr Studierende zu radioaktiven Themenstellungen.160 Aus
welchen Mitteln sie ihren Aufenthalt in Wien finanzierten, geht aus den Quellen nicht
hervor. Ein Stipendienwesen, wie es Marie Curie zur Erweiterung ihres wissenschaftli-
156 Vgl. Seidlerová/Seidler 2010, 46, 106 ; Těšínská 2010, 7. Die letztgenannte Dokumentensammlung
könnte als Ausgangspunkt für vergleichende Studien dienen, die die Entwicklung der Radioaktivitäts-
und Kernforschung in Wien als dem politischen und wissenschaftlichen Zentrum der Monarchie, und
anderen, nicht-deutschsprachigen Orten in der Peripherie systematisch untersuchen.
157 Vgl. Palló 1997, 127–128.
158 Siehe zum Personal des Laboratoire Curie zwischen 1906 und 1914, aufgeschlüsselt nach Geschlecht,
beruflichem Status und Gehaltsklasse Davis 1995, 330–331. Das erst später eröffnete Institut du Ra-
dium in Paris unterstand als öffentliche Einrichtung der Sorbonne. Vgl. Schürmann 2006, 34.
159 Vgl. Ceranski 2012, 58–61. Vgl. auch ÖStA, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940,
F. 650/4, Bl. 8 : Meyer an Bundesministerium für Unterricht vom 28.11.1931.
160 Vgl. Ceranski 2012, 61–64.
back to the
book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369