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Das regionale Netzwerk wird zerstört 237
kratische System des Nationalsozialismus Freiheiten, um jenseits der militärisch rele-
vanten Arbeiten zu forschen ?
5.1 Das regionale Netzwerk wird zerstört
5.1.1 Die Auflösung des Exner-Kreises
Kurz nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich fanden an den Uni-
versitäten und Hochschulen des Landes umfangreiche personelle Revirements statt.
Mit Billigung beziehungsweise aktiver Unterstützung des Bundesministeriums für
Unterricht und später des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volks-
bildung (REM) wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf allen Ebenen der uni-
versitären Hierarchie aus ihren Positionen verdrängt, weil sie als »jüdisch« oder poli-
tisch inopportun galten.4 An den Physikalischen Instituten der Universität Wien
verloren neun Professoren beziehungsweise Dozentinnen und Dozenten, das heißt ein
Drittel des akademischen Lehrpersonals, ihren Posten. An den Chemischen Instituten
waren es insgesamt zehn, was der Hälfte des dortigen Hochschullehrkörpers entsprach.
Drei Ordinariate, darunter die Leitungsposten am Institut für Radiumforschung, am
III. Physikalischen Institut und an der Lehrkanzel für Theoretische Physik sowie die
Extraordinariate am Institut für Radiumforschung beziehungsweise am Institut für
Theoretische Physik wurden durch die Vertreibungen der Stelleninhaber vakant.5
Am Institut für Radiumforschung wurden insgesamt elf Personen, ein Viertel aller
Beschäftigten, entlassen. Die Vertreibungen an den Universitäten Graz und Innsbruck
hatten nicht das gleiche quantitative Ausmaß wie in Wien, so wurden in Graz »nur«
12,7 Prozent und in Innsbruck 20,9 Prozent des akademischen Lehrkörpers der Philo-
sophischen Fakultäten entlassen. In Graz waren zwei Nobelpreisträger betroffen, die
Physiker Victor Hess und Erwin Schrödinger.6
Mit den politisch motivierten Vertreibungen brachen die jahrzehntelang kaum ver-
änderten Generationshierarchien auf. So war die Generation der älteren Exner-Schüler,
die die meisten Lehrkanzeln für Physik und einiger angrenzender Fächer seit dem
4 Siehe zu den konkreten Entlassungsgründen BAB, R 4901/13553 : Huber an Rust vom 15.6.1938, sowie
Reiter 1993.
5 Vgl. die Liste der im Jahre 1938 von den Nationalsozialisten aus dem Lehrkörper der Philosophischen
Fakultät entfernten Professoren und Dozenten, in : Wiener Montag vom 11.2.1946.
6 Vgl. Reiter 1993, 206. An den Physikalischen Instituten wurden insgesamt fünf regulär angestellte As-
sistentinnen und Assistenten beziehungsweise wissenschaftliche Hilfskräfte entlassen. Vgl. AÖAW, FE-
Akten, IR, Behördenschriftwechsel, K 32, Fiche 441 : Ortner an Dekanat der Philosophischen Fakultät
der Universität Wien vom 15.4.1938.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369