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Textträger für ihre Botschaften aus, deshalb wurden Grafiken, Musiknoten und
Spielkarten, auch Medaillen, Trinkgefäße und andere mit Schrift oder Bildern
versehene Objekte der Zensur unterzogen. Mitunter wurden politische Agitati-
onstexte auch auf sehr ungewöhnlichen Medien wie Verpackungsmaterial für
Backwerk oder Beilagezetteln zu Tabakpaketen vermittelt.78
Die zuweilen an Paranoia gemahnenden Befürchtungen der Zensoren und
ihrer Auftraggeber werfen die Frage nach dem Wirkungspotential von Literatur
und Kunst auf. Über weite Strecken folgen die Zensur und später auch die Justiz
der Lern- bzw. Nachahmungstheorie, die davon ausgeht, dass fiktional vorge-
führte Verhaltensweisen und Appelle zu Nachahmungstaten führen. Nach der
antiken, auf Aristoteles zurückgehenden Theorie der Katharsis durch Kunst wer-
den dagegen die Affekte der Betrachter von Theaterstücken durch Miterleben
von (zum Beispiel gewalttätigen oder traurigen) fiktiven Handlungen und Sze-
nen ,gereinigt‘. Der Kunst wird dadurch eine Art Ventilfunktion für Leidenschaf-
ten zugewiesen. Die moderne Literatur- und Kunstpsychologie geht im Allge-
meinen davon aus, dass Einstellungsänderungen, zumal durch Lektüre einzelner
Werke, äußerst unwahrscheinlich sind. Allenfalls seien Lektüreerlebnisse als
Mosaiksteinchen im Zusammenhang mit anderen Einflüssen – und auch dann
nur längerfristig – wirksam.79 Dagegen befürchten Zensoren und Richter meist,
dass zum Beispiel die Darstellung geglückter Aggression, erfolgreicher Krimi-
nalität oder Revolution zur Nachahmung verleitet, weshalb vor allem Kinder
und Jugendliche von ,Schmutz- und Schund‘-Erzeugnissen verschont bleiben
sollen. Texten und fiktiven Darstellungen in Literatur und anderen Medien wird
also – in, wie wir gesehen haben, lange zurückreichender Tradition – eine gefähr-
liche Verführungskraft zugeschrieben.80 Als zeitgenössisches Beispiel aus Öster-
reich soll ein Gutachten des Zensors Johann Gabriel Seidl, selbst Lyriker, über
Moritz Hartmanns Gedichtsammlung Kelch und Schwert (1845) dienen, in dem
er seine Befürchtungen über die Wirkung der Texte detailliert offenlegt:
Der Verfasser leiht nicht nur seinen eigenen Freiheitsträumen Worte, verrät nicht
nur sein inneres Hussitentum mit unvorsichtiger Offenheit, sprudelt nicht nur seinen
Unwillen gegen das Bestehende rückhaltlos heraus, was man allenthalben einem jun-
78 Vgl. dazu Wolfram Siemann: Fahnen, Bilder und Medaillen. Medien politischer Kommunika-
tion im 19. Jahrhundert. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Studium und Unter-
richt 15 (1986), S. 17–27.
79 Hans Kreitler/Shulamith Kreitler: Psychology of the Arts. Durham: Duke University Press 1972,
S. 357–358.
80 Die von den Zensoren befürchtete Übertragung von Fiktionen in die Wirklichkeit liegt übri-
gens auch der dekodierenden Lektüre von Schlüsselromanen zugrunde. Zu dieser Gattung vgl.
zuletzt Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fik-
tionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen: Niemeyer 2004.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
38 1. Einleitung
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510