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gewissermaßen zwei Körper, ein corpus naturale und ein überzeitliches und
unsterbliches corpus politicum. Von der schlechten Figur, die der König im Ehe-
bett machte, konnte per Analogie unmittelbar auf den Zustand des Königreiches
geschlossen werden, das wie die Königin der sexuellen ,Unterwerfung‘ der adäqua-
ten Regierung entbehrte. Der königliche Körper repräsentierte die Vernunft,
was auch Freiheit von weiblich und/oder tierisch konnotierten Leidenschaften,
geschweige denn Ausschweifungen bedeutete.49 Je mehr sich der Schluss von
individuellen Verfehlungen der Herrscher auf die Fragwürdigkeit der Instituti-
on der absoluten Monarchie an sich ausdehnte – diese Entwicklung lässt sich in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beobachten –, desto gefährlicher wur-
den die Skandalchroniken. Das Problem war zudem ein Staaten übergreifendes:
Die österreichische Zensur verbot Beleidigungen französischer Herrscher, gleich-
zeitig versuchten auch französische Polizeibeamten in den 1780er Jahren in
Wien, die Produktion und Verbreitung von Schmähschriften gegen Louis XVI.
zu vereiteln.50
Die Beispielreihe beginnt mit Les amours de Messaline, hinter der sich die
zweite Frau des englischen Königs James II., Marie d’Este, die Tochter des Her-
zogs von Modena und nahe Verwandte des Papstes, verbirgt. Ihre engsten Ver-
trauten und Ratgeber sind der päpstliche Nuntius (Nonce) Dada und der Jesuit
Pere [!] Peter. In einer Besprechung über die Zukunft nach dem Tod des alten
Königs wird geplant, dass sie einen Thronfolger gebären solle, um ihre Herr-
schaft und den Katholizismus in England zu verankern. Nach der Besprechung
wird Pere Peter nächtens in das Zimmer einer Hofdame gerufen, die ihn mit
Pere Sebastien, ihrem angestammten Geliebten, verwechselt. Von ihr erfährt er,
dass die Königin zwar den Nuntius am meisten liebt, aber auch ihn, Pere Peter,
schätzt. Der Nuntius ist inzwischen bei der Königin, die beiden gestehen einan-
der ihre Liebe. Es folgt eine Szene, die zugleich die äußersten Grenzen expliziter
Schilderungen in diesem Text markiert.
Ces momens de complaisance & de liberté du Nonce assurérent tellement le cœur de
Messaline, qu’elle le fit lever, pendant qu’il baisoit ses belles mains à chaque parole,
man (Hg.): Marie-Antoinette. Writings on the Body of a Queen. New York, London: Routled-
ge 2003, S. 99–116, hier S. 104, dazu ferner ausführlich Dies.: La reine scélérate. Marie-Anto-
inette dans les pamphlets. Paris: Éditions du Seuil 1989, S. 107–144, wo auch die beiden hier
zitierten pornographischen Pamphlete gegen Marie-Antoinette (Les Amours de Charlot et Toi-
nette und L’Autrichienne en goguettes ou l’orgie royale) abgedruckt sind.
49 Vgl. Jeffrey Merrick: The Body Politics of French Absolutism. In: Sara
E. Melzer/Kathryn Nor-
berg (Hg.): From the Royal to the Republican Body. Incorporating the Political in Seventeenth-
and Eighteenth-Century France. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press
1998, S. 11–31, hier S. 19–31.
50 Siehe Darnton: Forbidden Best-Sellers, S. 225. 6.2. Chroniques scandaleuses 273
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510