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(Was säumen wir einen Schritt zu tun, den man doch einmal tun muß? […] Lassen
Sie uns eine Zeit nutzen, wo der Lebensüberdruß uns den Tod wünschenswert macht;
hüten wir uns davor, daß er mit seinen Schrecken nicht in dem Augenblicke kommt,
wo wir kein Verlangen mehr danach haben. […] Ach, wieviel Pein bereitet doch, die
Bande zu zerreißen, die unsere Herzen an die Erde fesseln, und wie weise ist es, sie
zu verlassen, sobald jene zerrissen sind! Ich fühle es, Mylord, wir sind alle beide eines
reinern Aufenthalts würdig. Die Tugend zeigt ihn uns, und das Schicksal lädt uns ein,
ihn zu suchen. Möge die Freundschaft, die uns verbindet, uns noch in unserer letz-
ten Stunde vereinigen. Oh, welche Wollust für zwei wahre Freunde, ihre Tage frei-
willig Arm in Arm zu beschließen, ihre letzten Seufzer zu vermischen, die beiden
Hälften ihrer Seele gleichzeitig auszuhauchen! Welcher Schmerz, welche Reue kann
ihre letzten Augenblicke vergiften? Was lassen sie zurück, wenn sie die Welt verlas-
sen? Sie gehen gemeinsam fort; sie lassen nichts zurück.)96
Die Gefahr der ,Infektion‘ mit diesen Ideen ist hier besonders groß, weil der
gemeinsame Freitod nicht nur entschuldigt wird, sondern im Gegenteil gerade-
zu von damit verbundener Wollust die Rede ist. Van Swieten schrieb zu dem
Buch: „verum a pagina 197 ad 223 suicidium defendit, sequente epistola 224
quoddam remedium dat contra hanc opinionem sed pagina 232
auctor affirmat
si morbo dolentes sint incurabiles quod liceat se ipsum … et 240 romanos lau-
dat.“97 (Von S. 197 bis 223 verteidigt der Verfasser den Selbstmord, in dem fol-
genden Brief auf S.
224 gibt er zwar ein Mittel dagegen an, aber auf S.
232 bestä-
tigt er, dass es erlaubt sei sich zu …, wenn die Schmerzen nicht zu bekämpfen
seien, und auf S. 240 lobt er die Römer.)98 Van Swietens Kommentar zeigt, dass
seiner Ansicht nach die im Roman vorgebrachten Gegenargumente nicht aus-
reichten, um die Äußerungen unschädlich zu machen. Das ist ein durchgehen-
der Zug: Nach Ansicht der Zensoren findet Übertragung statt, sobald von einem
Gegenstand die Rede ist, egal in welchem Rahmen und aus welcher Perspekti-
ve.99 Das wiederum stimmt mit der These überein, dass die Missverständnisse
im Verlauf der Werther-Rezeption auf der Übertragung des älteren, auf die Bibel
und Erbauungsliteratur, insbesondere Heiligenviten und Legenden, zugeschnit-
tenen Lesemodells der imitatio durch ein im Umgang mit Romanliteratur noch
96 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. 2. durchgesehene Auflage. München: dtv
1988; zitiert nach Paulin: Der Fall Wilhelm Jerusalem, S. 162. – Der Roman wurde in einer
Ausgabe von Auszügen 1765, dann im Catalogus von 1776 in der Amsterdamer Erstausgabe
von 1761 und schließlich in einer deutschen Übersetzung (Frankfurt und Wien: Gerold 1810)
verboten.
97 Van Leersum: Gérard van Swieten en qualité de censeur, S. 392.
98 Übersetzung vom Verfasser, N. B.
99 Vgl. dazu auch des Zensors Hägelin Ausführungen über das Motiv Selbstmord im Anhang,
S. 447 u. 452–453. 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 291
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510