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unerfahrenes Publikum auf schöne Literatur beruhen. Der Werther-Roman mach-
te den Entschluss zum Selbstmord nur allzu plausibel und nachvollziehbar, er
verdeutlicht das zugrunde liegende Leid in alltagsnaher Sprache. Die Werther-Fi-
gur stand dem Erfahrungshorizont junger Menschen der Epoche anscheinend
tatsächlich nahe. Aus Nachfühlen, der Empathie, entwickelt sich bei entspre-
chender Disposition des Lesers Nachhandeln, die imitatio.
Martin Andree hat aus verschiedensten Quellen zwölf Fälle von Nachah-
mungstaten zwischen 1775 und 1790 dokumentiert.100 Die ‚Markierung‘ durch
Präsenz des Buches – in der Tasche des Opfers oder aufgeschlagen in der Nähe
liegend – und/oder romankonforme Inszenierungen sind ein Hinweis, aber noch
kein Beweis, dass der Suizid nicht auch ohne das Vorbild der Romanfigur statt-
gefunden hätte. Biographische Ähnlichkeiten, insbesondere unglückliche Liebe,
erweisen sich als häufige Voraussetzung für Nachahmungstaten. Für den Stand-
punkt der Zensoren und die ‚Gefährlichkeit‘ des Buches spricht ferner der
Umstand, dass der Selbstmord und die mögliche imitatio-Lektüre das dominan-
te Thema in der zeitgenössischen Rezeption war.101 Selbst die Befürworter bezo-
gen sich auf Werthers Selbstmord, sie verteidigten das Buch mit dem Argument,
dass es ein vom Suizid abschreckendes Exempel liefere. Die entscheidende Fra-
ge, inwieweit und welche Selbstmorde in dieser Epoche tatsächlich auf den Roman
zurückgeführt werden können, lässt sich nicht exakt beantworten, eine regel-
rechte Welle von Nachahmungstaten ist aber nicht verbürgt.102
Friedrich Nicolai berichtete 1775 von einer „hysterischen“ Frau, die sich ver-
giftete, nachdem sie sich den Werther hatte vorlesen lassen und davor angegeben
hatte, dass das Buch sie dazu bestimmt habe. In Kiel erschoss sich 1777 ein jun-
ger Mann, der Werther lag aufgeschlagen auf dem Tisch, und in hinterlassenen
Briefen schrieb er, dass seine Geliebte einen anderen geheiratet hatte. 1778 wur-
de Christine von Laßberg unter Anwesenheit Goethes in Weimar tot aus der Ilm
geborgen, sie hatte ein Exemplar des Romans bei sich. 1785 berichtete Karl Phi-
lipp Moritz’ Magazin für Erfahrungsseelenkunde über den Fall eines jungen Man-
nes, der sich über Nacht in einer Stube einschloss; als der Bediente die Tür öff-
nete, schoss er sich mit einer Pistole ins rechte Auge. Wieder lag der Werther
aufgeschlagen auf dem Tisch, und zwar an der Stelle, an der es heißt: Es ist zwölf
– sie sind geladen etc. Am spektakulärsten, aber, wie wir sehen werden, ziemlich
weit von Werther entfernt, ist der Fall der 17-jährigen Franziska von Ickstadt,
100 Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. Mün-
chen: Fink 2006, S. 176–187.
101 Vgl. Klaus Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschafts-
ordnung im 18. Jahrhundert. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich: Gehlen 1970, S. 67–71,
und die in dem Band abgedruckten Quellen.
102 Vgl. Andree: Wenn Texte töten, S. 187–197.
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
292 6. Fallstudien
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510