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dabei so manche verzögerte Verbote, die nicht zeitnah, sondern oft erst einige
Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der Erstausgabe ausgesprochen wurden.
Zwar wurde Lessing im Mai 1775 von Kaiser Joseph
II. „mit solcher Distinc-
tion“ behandelt, wie „noch nie ein deutscher Gelehrter“,113 eines seiner Jugend-
werke, das Stück „Die alte Jungfer“ (1775), wurde dennoch umgehend, das heißt
im Katalog von 1776, verboten. Laut Protokoll der Zensurkommission erschien
das Stück anstößig, „massen in diesem für sich ganz unwehrten, und unschmak-
haften Geschmier nebstbey sehr schlipfrige Zweydeutigkeiten, und ungesittete
Ausdrücke zum öftern vorkommen, deren Lesung der Jugend, die gemeiniglich
derley Stücke zu ihrer Unterhaltung eifrig suchet, gefährlich seyn würde“.114
Ein Plautus-Motto über die menschlichen Sitten markiert das Genre, dem
sich das Stück zuordnet, die Namen, insbesondere Oront, gemahnen an Moliè-
re. Herr Oront möchte die 50-jährige Frau Ohldinn mit dem Kapitän von Schlag
verheiraten, um ihr spät, aber doch „das überirdische Vergnügen des Ehestan-
des“115 und zugleich würdige Erben zu verschaffen (und sich selbst 50
Reichsta-
ler). Ihr Vetter Lelio und seine Geliebte Lisette versuchen, die Heirat mithilfe
von Frau Oront zu hintertreiben, um selbst zu erben. Sie stiften Peter, den Kuchen-
verkäufer („Gebackensherumträger“), dazu an, sich als von Schlag auszugeben
und die Jungfer von der Heirat abzuschrecken. Peter zieht es aber vor, die Jung-
fer selbst zu heiraten, und tatsächlich findet sie Gefallen an ihm. Ein Gläubiger,
der die Jungfer fragt, ob sie die Schuld des Kapitäns in Höhe von 900 Talern
übernehmen wird, kann daran nichts ändern. Schließlich nennt Peter seine
Bedingung: Die Jungfer muss ihm ihr ganzes Vermögen überlassen. Der echte
Kapitän von Schlag kommt hinzu, was für Verwirrung sorgt. Er sichert Lelio
aber einen Teil des Vermögens der Jungfer zu, worauf sich alles in Wohlgefallen
auflöst.
„Schlipfrige Zweydeutigkeiten“ finden sich im Zusammenhang mit dem frei-
enden Kapitän, der im Militärdienst „zu fernern Diensten untüchtig“ geworden
ist, worauf die Jungfer feststellt: „Untüchtig? – Nein, ich besinne mich alleweile.
Ich mag ihn nicht.“ Der für ihn werbende Oront beruhigt sie über die Bedeu-
tung von „untüchtig“ und erklärt diese Eigenschaft geradezu als Vorzug: „Und
verlangen Sie denn einen Mann, der stets zu Felde liegt? Und der um Sie des
Jahrs kaum zwey Nächte seyn kann? Die abgedankten Officiers sind die besten
Ehemänner, wenn sie ihren Muth nicht mehr an den Feinden beweisen können,
113 Staatsrat Gebler an Friedrich Nicolai, zitiert in Houben: Verbotene Literatur, Bd. 1, S. 513.
114 Zitiert nach Walter: Die zensurierten Klassiker, S. 146.
115 Die alte Jungfer. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. In: Gotthold Ephraim Lessings zwey Lustspie-
le. 1.
Damon. 2.
Die alte Jungfer. Frankfurt und Leipzig: Fleischer 1775 (Deutsche Schaubühne,
103. Theil), S. 53–126, hier S. 59. 6.4. Die deutsche Klassik 297
Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Title
- Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848
- Author
- Norbert Bachleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20502-9
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 532
- Keywords
- Censorship, Austria, Habsburg monarchy, 18th and 19th century, Zensur, Österreich, Habsburgermonarchie, Geschichte, 18. und 19. Jahrhundert, Literatur
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- VORBEMERKUNGEN 11
- 1. EINLEITUNG 15
- 2. IM DIENST DER AUFKLÄRUNG: DIE ZENSUR ZWISCHEN 1751 UND 1791 41
- 2.1. Die Vorgeschichte: Zensur in der Frühen Neuzeit 41
- 2.2. Die maria-theresianische Zensurkommission 49
- 2.3. Die josephinisch-leopoldinische Epoche 58
- 2.4. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1754–1791 73
- 2.4.1. Verbote 1754–1791 73
- 2.4.2. Verbote 1754–1780, gegliedert nach Sprachen 78
- 2.4.3. Meistverbotene Autoren 1754–1780 79
- 2.4.4. Verbote 1783–1791, gegliedert nach Sprachen 82
- 2.4.5. Meistverbotene Autoren 1783–1791 84
- 2.4.6. Verbote 1754–1791, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 85
- 2.4.7. Meistverbotene Verlage 1754–1791 87
- 2.4.8. Häufigste Verlagsorte 1754–1791 91
- 3. DIE ZENSUR ALS INSTRUMENT DER REPRESSION: DIE ÄRA NAPOLEONS UND DER VORMÄRZ (1792–1848) 93
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 3.1.1. Die Etablierung des polizeilichen Zensursystems 94
- 3.1.2. Die Zensoren 96
- 3.1.3. Die Aktion der Rezensurierung 1803–1805 101
- 3.1.4. Die Jahre der napoleonischen Besatzung und die Zensurvorschrift von 1810 105
- 3.1.5. Die Zensurgutachten: Beispiele aus den Jahren 1810/11 108
- 3.1.6. Die Bücherrevisionsämter 114
- 3.1.7. Die Staatskanzlei 121
- 3.2. Die Zensur im Vormärz (1821–1848) 124
- 3.3. Kommentierte Statistik der Verbotstätigkeit 1792–1848 146
- 3.3.1. Verbote und Zulassungen 1792–1820 148
- 3.3.2. Verbote 1792–1820, gegliedert nach Sprachen 151
- 3.3.3. Meistverbotene Autoren 1792–1820 153
- 3.3.4. Verbote und Zulassungen 1821–1848 157
- 3.3.5. Verbote 1821–1848, gegliedert nach Sprachen 163
- 3.3.6. Meistverbotene Autoren 1821–1848 166
- 3.3.7. Verbote 1792–1848, gegliedert nach Disziplinen bzw. Gattungen 169
- 3.3.8. Meistverbotene Verlage 1792–1848 171
- 3.3.9. Meistverbotene französische Verlage 1792–1848 186
- 3.3.10. Häufigste Verlagsorte 1792–1848 188
- 3.1. Zwischen Französischer Revolution und Studentenunruhen: Die Zensur von 1792 bis 1820 94
- 4. EIN BLICK IN DIE LÄNDER 193
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 4.1.1. Die böhmischen Zensurkommissionen und ihre Zusammensetzung 193
- 4.1.2. Das Nebeneinander der Zensurinstanzen 196
- 4.1.3. Die gescheiterte Zentralisierung (1781–1791) 200
- 4.1.4. Die langsame Professionalisierung und Zentralisierung des Zensurapparats unter Franz II./I 203
- 4.1.5. Prag und Wien im Spannungsfeld der Kompetenzstreitigkeiten 206
- 4.1.6. Die Struktur der Zensur in Böhmen seit 1810 208
- 4.1.7. Unter der Lupe – Analyse der Gutachten 211
- 4.1.8. Probleme der Zensur in den Provinzen – der Fall Böhmen 214
- 4.2. Daniel Syrovy: Die italienischsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (1768–1848) 216
- 4.1. Petr Píša/Michael Wögerbauer: Das Königreich Böhmen (1750–1848) 193
- 5. DIE THEATERZENSUR 239
- 6. FALLSTUDIEN 259
- 6.1. Periodika 259
- 6.2. Chroniques scandaleuses 269
- 6.3. Die Motive ,Teufel‘ und ,Selbstmord‘ in der verbotenen Literatur 281
- 6.4. Die deutsche Klassik 296
- 6.5. Die Romantiker 321
- 6.6. Historische Romane am Beispiel von Walter Scott 336
- 6.7. Französische und anglo-amerikanische Romanliteratur der 1840er Jahre 347
- 6.8. Geschichtsepik 359
- 6.9. Französische Theaterstücke aus dem Zeitraum 1830–1848 374
- 6.10. Englische Theaterstücke 389
- 7. AUSBLICK 407
- ANHANG 411
- 1. Zensurprotokolle 411
- 2. Verordnungen, Zensur-Richtlinien, Berichte 416
- Mandat betreffend „Sectischer Bücher-Verbott“, ausgegeben von Erzherzog Ferdinand I. von Österreich am 12.3.1523 416
- „Kurze Nachricht von Einrichtung der hiesigen Hofbüchercommission“ vom Februar 1762 418
- Pro Memoria des Professoris Sonnenfels Die Einrichtung der Theatral Censur bet[treffend] [Resolution von Joseph II., vom 15. März 1770] 419
- Gerard van Swieten: Quelques remarques sur la censure des livres (14. Februar 1772) 421
- Zensurverordnung Josephs II., ausgegeben am 1. Juni 1781 427
- Hofdekret vom 20., kundgemacht in Mähren den 28., in Innerösterreich den 30. Jäner, in Gallizien den 3. Februar 1790 431
- Denkschrift Franz Karl Hägelins, gedacht als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn (1795) 438
- Zensur-Vorschrift vom 12. September 1803. Anleitung für Zensoren nach den bestehenden Verordnungen 462
- Instruktion für die Theaterkommissäre in den Vorstädten von Wien, 5. Dezember 1803 470
- Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren, in Folge a. h. Entschließung vom 14. September 1810 erlaßen 474
- ABBILDUNGSVERZEICHNIS 479
- BIBLIOGRAPHIE 480
- REGISTER 510