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haben die Durchsetzung eines modernen, auf dem Stand der empirischen Ein-
zelforschung beruhenden, innovativen Faschismusbegriffes verhindert.75
Tatsächlich erscheint es befremdlich, dass etwa Wolfgang Schieder zu Beginn
der 1990er Jahre im Rahmen einer Bestimmung historischer Grundbegriffe die Be-
hauptung formulierte, dass der Faschismus seit 1945 keine Zukunft mehr habe, da
die beiden führenden Faschismen in Italien und Deutschland nach ihrem »selbst-
verschuldeten Untergang«76 an politischer Attraktivität verloren haben. Ohne den
Bezug auf Mussolini oder Hitler könne es keinen Faschismus mehr geben – eine
Behauptung, die schon per se angezweifelt werden muss, aber auch in ihrer Argu-
mentation, denn mit seiner Konklusio knüpfte Schieder an die in den Jahren nach
1945 vor allem von bundesdeutschen Historikern vertretene »Führertheorie« an,
wonach die Person des »Führers« als nahezu ausschließliche Ursache für die Ent-
stehung faschistischer Bewegungen und deren Etablierung als Herrschaftssysteme
begriffen wird. Die Führertheorie flammte in den 1970er Jahren durch eine Welle
von Hitler-Publikationen, zum Beispiel Joachim Fests bekannter Hitler-Biografie,
neu auf. Auch Elfriede Jelinek findet die Theorie unglaubwürdig : Hitler hätte als
Einzelperson den Nationalsozialismus nicht an die Macht bringen können, »das
wäre nicht gelungen«77, meint sie. Auch in ihren literarischen Texten befasst sich
die Autorin wiederholt mit Stehsätzen aus dem Volksmund und der Publizistik, die
das nationalsozialistische Phänomen auf die rigiden Führungseigenschaften Adolf
Hitlers reduzieren, und führt die Führertheorie ad absurdum, wie in dem empiri-
schen Kapitel zu ihrem großen Roman »Die Kinder der Toten« erläutert wird.
Nicht nur die eindimensionale Führertheorie erlebt (vor allem im deutsch-
sprachigen Raum) immer wieder Renaissancen ; auch lebte in der zweiten
Hälfte der 1990er Jahre mit der »Goldhagen-Debatte«, die um die Ursachen
des Holocaust geführt wurde, die Idee einer anderen, eigentlich längst ad acta
gelegten Theorie wieder neu auf : die ursprünglich von Karl Dietrich Bracher
formulierte »These vom deutschen Nationalcharakter«, wonach Faschismus je-
weils ein Produkt nationaler Besonderheiten wäre und sich der Nationalsozialis-
mus in Deutschland aufgrund eines unterstellten deutschen Nationalcharakters
habe entwickeln können78 (wobei Bracher österreichische Spezifika immerhin
ansatzweise miteinbezog).79
75 Vgl. Reichardt, Neue Wege, S. 9 ff.
76 Ebd., S. 178.
77 Jelinek, zitiert nach Janke/Kovacs/Schenkermayr, Die endlose Unschuldigkeit, S. 21.
78 Bracher, Die deutsche Diktatur. Die These vom Nationalcharakter findet auch in Bezug auf
andere Völker Anwendung, etwa auf die Spanier und ihr südländisches Temperament, das zum
Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs geführt habe usw.
79 Vgl. ebd.: Ausführungen zu Österreich vor allem in dem Kapitel »Österreichische Vorläufer«,
S. 53–60, zum Teil auch in dem nachfolgenden Kapitel über Adolf Hitler, S. 60–72. 29
Diskussion der zentralen Begriffe |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319