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Reichsregierung Adolf Hitlers dafür verantwortlich gemacht, dass das »macht-
und willenlos gemachte Volk Ă–sterreichs in einen sinn- und aussichtslosen Er-
oberungskrieg geführt« worden sei, den »kein Österreicher jemals gewollt«192
habe. In einer Rede am 19. August 1945 erklärte der spätere Bundeskanzler
Leopold Figl :
»Sieben Jahre schmachtete das österreichische Volk unter dem Hitlerbarbarismus. Sie-
ben Jahre wurde das österreichische Volk unterjocht und unterdrückt, kein freies Wort
der Meinung, der Bekenntnis zu einer Idee war möglich, brutaler Terror und Gewalt
zwangen die Menschen zu blindem Untertanentum.«193
Figls Rede kann als repräsentatives Beispiel für die Selbstdarstellung Österreichs
im Rahmen der Opfertheorie festgehalten werden.194 Der Holocaust fand in der
Unabhängigkeitserklärung keine Erwähnung. Die jüdischen Opfer des Natio-
nalsozialismus wurden nach 1945 aus der kollektiv-österreichischen Erinnerung
verdrängt, ebenso wie andere Minderheiten (Roma und Sinti, Angehörige der
slowenischen oder anderer nationaler Minderheiten, Zwangsarbeiter, Homose-
xuelle, Behinderte, Deserteure u. a.), die von der nationalsozialistischen Verfol-
gungs- und Vernichtungspolitik betroffen gewesen waren, aber jahrzehntelang
um Anerkennung kämpfen mussten.195
Ă–sterreichs BemĂĽhen, selbst als Opfer anerkannt zu werden, fand seinen
offiziellen Abschluss in den Verhandlungen zum Staatsvertrag 1955, denn die
österreichische Delegation konnte immerhin erreichen, dass auf einen in der
Präambel vorgesehenen Passus über Österreichs Mitschuld am Krieg verzichtet
wurde und nur die Bewertung als Opfer blieb.196
Aufgrund dieser und anderer Besonderheiten im Kriegs- und unmittelbaren
Nachkriegsgeschehen war es für Österreich – im Gegensatz etwa zur BRD –
möglich, bis zur Waldheim-Debatte in den 1980er Jahren ein »weitgehend
unhinterfragtes, positives Image«197 im Ausland aufrechtzuerhalten, denn die
Weltöffentlichkeit hatte sich darauf festgelegt, Österreich zu den Opferstaaten
einer nationalsozialistischen »deutschen« Expansionspolitik zu zählen.
line als pdf abrufbar unter : http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_1_0/1945_1_0.
pdf (Zugriff am 06.09.2016).
192 Ebd.
193 Leopold Figl, zitiert nach : Uhl, Das »erste Opfer«, S. 20.
194 Vgl. ebd., S. 20 f.
195 Vgl. Botz, Nachhall und Modifikationen, S. 602.
196 Vgl. Bergmann/Erb/Lichtblau, Schwieriges Erbe, S. 21.
197 Vgl. Uhl, Das »erste Opfer«, S. 22.
46 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319