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zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den
guten wie zu den bösen… Dieses Bekenntnis haben österreichische Politiker immer
wieder abgelegt. Ich möchte das heute ausdrücklich auch im Namen der österreichi-
schen Bundesregierung tun…«237
Das sich wandelnde geschichtspolitische Selbstverständnis Österreichs, das in
der zeithistorischen und politologischen Literatur mit dem Begriff der »Mit-
verantwortungsthese« bezeichnet wird, sollte sich im Laufe der 1990er Jahre bis
zum Ende der GroĂźen Koalition im Jahr 2000 als neuer politischer Grundkon-
sens herauskristallisieren.238 Auch in weiten Teilen der österreichischen Bevöl-
kerung scheint die Mitverantwortungsthese inzwischen angekommen zu sein.239
In Antithese dazu stehen nach wie vor die Geschichtspolitik der traditionell
deutschnationalen, fremden- und EU-feindlichen FPĂ– sowie deren Wahler-
folge unter den Obmännern Jörg Haider und Heinz-Christian Strache.240 Auch
der Bundespräsidentschaftswahlkampf des FPÖ-Kandidaten Norbert (Ger-
wald) Hofer von 2016 spiegelt diese Antithese wider.
Kritisch festgehalten werden muss weiters, dass die Ă–VP unter der FĂĽhrung
von Wolfgang Schüssel – der neuen geschichtspolitischen Sensibilität zum
Trotz – im Jahr 2000 eben diese FPÖ unter Jörg Haider mit in die Regierung
geholt hatte, was zu einem Wiederaufflammen der Diskussionen um die unzu-
reichende NS-Vergangenheitsbewältigung, auf nationaler wie auf internationaler
Ebene, fĂĽhrte. Trotz heftiger Kritik aus dem Ausland und Sanktionen der ande-
ren EU-Staaten lieĂź sich der damalige Ă–VP-Bundeskanzler Wolfgang SchĂĽs-
sel sogar dazu hinreiĂźen, die Opferthese im Zuge eines Zeitungs interviews im
Jahr 2000 sowie in einem Gespräch mit einem Redakteur der »Neuen Zürcher
Zeitung« 2005 öffentlich zu bekräftigen – »Ich werde nie zulassen, dass man
Österreich nicht als Opfer sieht. Das Land war in seiner Identität das erste mi-
litärische Opfer der Nazis …«241 –, was er vermutlich aus Gründen der außen-
politischen Selbstdarstellung tat (etwa als Reaktion auf die EU-Sanktionen).242
237 Franz Vranitzky in seiner Erklärung vor dem Österreichischen Nationalrat am 8. Juli 1991,
zitiert nach : Ebd.
238 Vgl. Uhl, Das »erste Opfer«, S. 27.
239 1947 hatten noch über zwei Drittel der Bevölkerung jede Mitverantwortung am Holocaust
abgelehnt, im Jahr 2000 glaubten nur noch 13Â
Prozent an eine Alleinschuld Deutschlands. Vgl.
Fröhlich-Steffen, Identität im Wandel, S. 156.
240 Vgl. Uhl, Das »erste Opfer«, S. 27.
241 Wolfgang SchĂĽssel in einem Interview im Jahr 2005, zitiert nach : Botz, Nachhall und Modi-
fikationen, S. 592.
242 In einem Interview mit Jeff Barak, dem Chefredakteur der Jerusalem Post sagte SchĂĽssel, dass
nicht nur »der souveräne österreichische Staat (…) das erste Opfer des Nazi-Regimes« ge-
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Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319