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bereits auf dem besten Wege, eine ausgezeichnete Berufsmusikerin zu werden.
Gleichzeitig sucht es nach anderen Möglichkeiten, sich auszudrĂŒcken, kleidet
und schminkt sich extravagant, beginnt Gedichte zu schreiben, komponiert ein
wenig. In der Klosterschule lernt es, »die fromme Miene heraus- und hineinzu-
schrauben, je nachdem, wo die Miene explodieren sollte«279. Jedes Reden ĂŒber
SexualitÀt ist selbstverstÀndlich ein Tabu, in der Schule wie auch zu Hause.
Im Sommer 1964 kulminiert das psychische Leiden : Kurz nachdem Elfriede
die Schule erfolgreich abgeschlossen hat, erleidet sie einen Nervenzusammen-
bruch und wird ins Krankenhaus eingeliefert : »Angstneurose«280, so die Diag-
nose. Die AnfÀlle wiederholen und hÀufen sich. Als sie im Herbst mit dem Stu-
dium (Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte) in Wien beginnen will, kann
sie kaum das Haus verlassen, hat Angst davor, mit der StraĂenbahn zu fahren
oder an Vorlesungen teilzunehmen. Nach kurzer Zeit bricht sie das Studium ab
und verlĂ€sst â so die Legende â fĂŒr ein Jahr das Elternhaus nicht, in welchem
der schwer kranke Vater bis kurz vor seinem Tod lebt und die Mutter alle TĂŒren
abschlieĂt, weil der todkranke Vater unter dem fĂŒr die Alzheimer-Krankheit
typischen Wandertrieb leidet. Die Familie wird damit vollends zum Schauplatz
einer »psychischen Ausnahmesituation«281. Um dieser zu entkommen, liest das
MÀdchen alles, was ihm in die HÀnde fÀllt, sieht sich alles an, was die beiden
österreichischen TV-Programme damals zeigen.282 In diesem Isolationsjahr zu
Hause schreibt Elfriede ihren ersten Roman, »bukolit«283 und beginnt sofort
nach dessen Fertigstellung mit einem neuen Projekt, einem »Illustriertenroman«.
Im Mai 1969 wird sie zur Jugendkulturwoche nach Innsbruck eingeladen und
mit zwei Preisen der Jury, in den Sparten Prosa und Lyrik, ausgezeichnet.284 Die
Anerkennung ihres Schreibens hilft ihr dabei, die AngstzustĂ€nde zu ĂŒberwinden,
das Haus zu verlassen und wieder am sozialen Leben teilzunehmen.285 Sie ist
jedoch keine, die unbemerkt in der Menge verschwinden kann. Geht die junge
Frau unter Menschen, dann »wirkt sie in der grauen, leicht verfetteten Wiener
KaffeehausatmosphĂ€re wie ein fremder Vogel«286. Ihr extravagantes ĂuĂeres
fÀllt auf.
279 Jelinek, zitiert nach : Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 31.
280 Dies., zitiert nach : Kerschbaumer, PortrÀt einer jungen österreichischen Autorin, S. 145.
281 Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 40.
282 Vgl. ebd., S. 40 f. Auch heute noch sei sie fernsehsĂŒchtig, erklĂ€rte Jelinek in Interviews wie-
derholt. Sie sei unter anderem deswegen abhÀngig vom Fernsehen, weil sie ja aufgrund ihrer
agoraphobischen Ăngste nicht ins Kino gehen könne. Vgl. profil, Nr. 49, 2004. S. 134.
283 Der Roman wurde allerdings erst 1979 veröffentlicht.
284 Vgl. Mayer/Koberg, Ein PortrÀt, S. 44.
285 Vgl. ebd., S. 50
286 Kerschbaumer, PortrÀt einer jungen österreichischen Autorin, S. 144. 59
Elfriede Jelinek : AnnĂ€herungâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319