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lichen) mit, der in Ă–sterreich aufgrund der offen fremdenfeindlichen und an-
tisemitischen Positionierung des kleinen Koalitionspartners massive Proteste
entgegenschlagen.316 Der Theatermonolog »Das Lebewohl« wird im Rahmen
einer dieser Demonstrationen öffentlich gezeigt – er ist dem freiheitlichen Par-
teiobmann, Jörg Haider, offenkundig auf den Leib geschrieben. Um ihren Un-
willen gegenüber der neuen Regierungskoalition kundzutun, verhängt Elfriede
auĂźerdem zum zweiten Mal ein AuffĂĽhrungsverbot fĂĽr ihre TheaterstĂĽcke, das
zwei Jahre lang aufrecht bleibt. Im selben Jahr stirbt die Mutter. Die Tochter
sagt, sie sei »jeden Tag froh«317 darüber.
2003 wird »Das Werk« in der Inszenierung von Nicolas Stemann am Wie-
ner Akademietheater gespielt. Auch dieses StĂĽck, in dem die Errichtung des
Wasserkraftwerks Kaprun und die dabei zu Tode gekommenen Zwangsarbeiter
thematisiert werden, gewinnt den MĂĽlheimer Dramatikerpreis. Noch im selben
Jahr wird »Bambiland« (2003) unter der Leitung von Christoph Schlingensief
am Burg theater aufgeführt, 2005 folgt »Babel«, das am Akademietheater ge-
spielt wird.
Im Oktober 2004 passiert es schließlich : Elfriede Jelinek erhält – und sie
hat nach eigener Aussage dafür gebetet, dass es nicht passieren möge318– den
Literaturnobelpreis.
Die Reaktionen auf die Auszeichnung sind ambivalent und entsprechen
den polarisierenden Meinungen, die Jelinek seit ihren Anfängen begleiten.319
»Mit Sprachgewalt und Österreich-Hass zum Literaturnobelpreis«320 titelt das
Wochenmagazin »profil«, bringt aber dennoch einen umfangreichen, wohlwol-
lenden Beitrag. Das Boulevardblatt »Die Kronen Zeitung« weigert sich, die
Nachricht wie alle anderen österreichischen Zeitungen auf Seite eins zu setzen.
Auch FPÖ-Parteiobmann Jörg Haider nimmt die Wahl unwillig zur Kenntnis :
Er erkennt nach wie vor »keine literarische Wertigkeit«321 in Jelineks Schaffen,
wettert er öffentlich. Ansonsten wird der Preisträgerin von offizieller Seite her
»durchaus höflich gratuliert«322. Neu hingegen ist die Feindseligkeit in der deut-
schen Presse : So wird Jelinek etwa in der »Welt« als »Vollnullität« bezeichnet.323
316 Zu dem umstrittenen schwarz-blauen Koalitionsabkommen von 1999/2000 und den »Don-
nerstags-Demos« vgl. Kapitel 3.3.4 dieser Studie. Zu dem Beleg über Jelineks Partizipation
vgl. profil, Nr. 49, 2004, S. 132 f.
317 Jelinek, zitiert nach : profil, Nr. 49, 2004, S. 132.
318 Vgl. Müller, Ich bin die Liebesmüllabfuhr, S. 21 f.
319 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 253.
320 profil, Nr. 42, 2004.
321 Jörg Haider in der TV-Dokumentation »Wer hat Angst vor Elfriede J. ?«.
322 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 255.
323 Vgl. ebd.
64 | Einleitung
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Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319