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Die Ausgezeichnete nimmt den Preis an, bleibt der Verleihung jedoch fern und
lässt stattdessen ein Video übertragen, in welchem sie einen Essay mit dem Titel
»Im Abseits« verliest.324 Nach dem Nobelpreis zieht sie sich mehr denn je zurück
und agiert in erster Linie über ihre Homepage, auf der Kommentare und Essays
zu aktuellen Themen zu lesen sind und auf welcher auch der bislang letzte Roman,
»Neid« (2008), in Fortsetzungen veröffentlicht wird. Außerdem schreibt sie lau-
fend neue Theaterstücke, darunter »Rechnitz (Der Würgeengel)«, das ihr 2009 zum
dritten Mal den Mülheimer Dramatikerpreis einbringt. 2011 wird sie für »Winter-
reise« schließlich zum vierten Mal mit diesem wichtigen Theaterpreis geehrt.
Elfriede Jelinek, die Hauptfigur dieser unglaublichen Geschichte, die nach
eigener Aussage von der Mutter emotional geknebelt und vom kranken Vater
früh verlassen wurde, ist zur umstrittensten und wahrscheinlich bekanntesten
zeitgenössischen Autorin im deutschsprachigen Raum avanciert.
»Wäre sie nicht bereits vorhanden, man müsste die Biographie dieser Autorin erfin-
den.«325
Dass die vorhandene Autorinnenbiografie erfunden wäre, ist nicht gesagt
– dass
sie nicht erfunden wäre, allerdings auch nicht. Die spannendste aller Geschich-
ten Elfriede Jelineks ist schließlich ihre eigene. In dem Bemühen um Authen-
tizität konfrontieren Mayer/Koberg in ihrem Porträt die autobiografischen
Erzählungen der Autorin mit Archivquellen sowie mit Aussagen von künst-
lerischen Wegbegleitern, aber auch Kritikern und stellen die einzelnen lebens-
geschichtlichen Kapitel jeweils in Zusammenhang mit Jelineks literarischem
Werk. Insofern haben die Autoren ein Porträt vorgelegt, das zwar nicht unbe-
dingt sachlich-distanziert, aber in jedem Fall äußerst gewissenhaft recherchiert
ist. Es wird vorerst eine der Hauptreferenzen für biografische Darstellungen
über Elfriede Jelinek bleiben.
Jelinek selbst betont, dass keine geplante Medienstrategie hinter ihren Aus-
sagen in Interviews stecke. Ursprünglich habe sie den Leuten »was erklären«
wollen, damit diese ihre Texte besser verstehen, dann habe sie jedoch gemerkt,
dass das nicht funktioniere, weil »die Leute nicht glauben, daß man ihnen etwas
sagen möchte, sondern irgendeine List dahinter vermuten«326. Gerne würde sie
die Dinge, die sie über sich preisgegeben hat, wieder zurücknehmen :
324 Jelinek hatte im Vorfeld der Preisverleihung ein TV-Team zu sich bestellt, ließ die Lesung des
Texts aufzeichnen und bei der Preisverleihung abspielen, da sie sich außerstande sah, selbst
nach Stockholm zu reisen und den Preis entgegenzunehmen.
325 Spanlang, Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Biographie, S. 247.
326 Fuchs/Jelinek, »Man steigt vorne hinein…«, S. 9. 65
Elfriede Jelinek : Annäherung |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319