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Waldheim Anagramme gemacht, und egal, wie sie die Wörter geschüttelt hat, es blie-
ben immer die Buchstaben SA und SS ĂĽber. Das ist fĂĽr mich der Beweis, dass die Spra-
che selber sprechen kann.«482
Das Verfahren der »sprechenden Sprache« setzte sie in späteren Texten fort,
zum Beispiel in dem Theaterstück »Totenauberg«, in welchem sie sich mit der
komplizierten Beziehung zwischen dem Philosophen Martin Heidegger, der
mit den Nationalsozialisten sympathisierte, und der jĂĽdischen Publizistin und
Philosophin Hannah Arendt befasste, oder auch in »Wolken.Heim«. Sie modi-
fizierte dieses Verfahren jedoch stetig weiter.483
Das »Burg theater«-Stück von 1982/84 beklagt den Zusammenhang von
NS-Ideologie und KĂĽnstlermythen : Es zeigt opportunistische Theater- und
Filmschauspieler, die ihr fehlendes Unrechtsbewusstsein mit ihrer angeblichen
Hingabe zur Kunst rechtfertigen. In Wahrheit sind sie ideologisch ebenso ver-
einnahmbar wie die Sprache, derer sie sich bedienen. Wegen der offenkundigen
Ă„hnlichkeit der Hauptfiguren mit Paula Wessely sowie dem BrĂĽderpaar Paul
und Attila Hörbiger, Ikonen des Burg theaters und des Heimatfilms, löste die
Uraufführung des Stücks in Bonn einen österreichweiten Theater- und Me-
dienskandal aus.484
1986 – dem Jahr, in dem Österreichs Bevölkerung den ehemaligen Offizier
einer SA-Reiterstandarte und Mitglied des nationalsozialistischen Studenten-
bunds NSDStB, Kurt Waldheim, nach einer aufgeregten Wahlkampfauseinan-
dersetzung zum Bundespräsidenten wählte und der Rechtspopulist Jörg Haider
den eher liberalen FPĂ–-Parteivorsitzenden Norbert Steger vom Obmannsessel
stieß485 – wurde Jelinek mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln ausge-
zeichnet. In ihrer Dankesrede mit dem vielsagenden Titel »In den Waldheimen
und auf den Haidern« nutzte sie die Gelegenheit, zur politischen Situation in
Österreich Stellung zu beziehen, indem sie Österreichs »Arroganz« kritisierte,
sich vor allem wegducken und dafür »auch noch geliebt werden zu wollen«486 :
»In den Waldheimen und auf den Haidern dieses schönen Landes brennen die klei-
nen Lichter und geben einen schönen Schein ab, und der schönste Schein sind wir.
482 Jelinek, »Ich bin ein Racheengerl«. Mit der »Kollegin« ist die Lyrikerin und Essayistin Heidi
Pataki gemeint, worauf Jelinek in einem anderen Interview verwiesen hat : Vgl. Fuchs/Jelinek,
»Man steigt vorne hinein…«, S. 20.
483 Vgl. Janz, »Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen«, S. 230.
484 Zu »Burgtheater« vgl. Kapitel 3.1 dieser Studie.
485 Zu Jörg Haiders Machtergreifung in der FPÖ 1986 vgl. Zöchling, Haider, S. 115–144, außer-
dem Kapitel 3.3.3 dieser Studie.
486 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 142.
88 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319