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Die FPĂ– war immer schon ein Problem fĂĽr Jelinek gewesen und umgekehrt :
Tatsächlich ließ die Partei keine Gelegenheit aus, der linken Künstlerin eins
auszuwischen. Bereits 1969 hatte die FPĂ– als Reaktion auf Jelineks zweifache
Auszeichnung bei den Innsbrucker Jugendkulturwochen eine parlamentarische
Anfrage gestellt, ob denn auch »pornografische Texte« prämiert würden. Die
Innsbrucker Jugendkulturwochen fanden in Folge der Aufregung nicht mehr
statt. Jelineks Retourkutsche folgte mit dem Roman »Oh Wildnis, oh Schutz
vor ihr« (1985), in welchem sie die FPÖ, damals Unterstützerin der SPÖ-Min-
derheitsregierung, als direkte Nachfolgepartei der NSDAP darstellte :509
»Die Roten haben neuerdings nur einen Ehrgeiz unter ihrem neuen Anführer : für das
Nationallager in Braun keine Fehlinvestition sein ! Die sind jetzt in unserer ureigensten
Regierung, tobt das Volk nicht, denn es ist ortskundig.«510
Zugleich kritisierte sie damit die SPĂ– unter Bruno Kreisky fĂĽr den Pakt mit der
FPĂ–, weil die Sozialdemokraten sich aus rechnerischen (also eigennĂĽtzigen)
Gründen darauf eingelassen hatten, die »Wiederkunft«511 der Braunen zu be-
gĂĽnstigen. Das Volk tobt eben nicht, obwohl es dies aus moralischen GrĂĽnden
sollte, weil es »ortskundig« ist und man hier schon immer mit den Braunen
sympathisiert hatte.
Der Text setzt sich weitestgehend aus Anspielungen, Dialektismen und an-
deren Wortspielen zusammen, welche die Mythen Natur und Vergangenheit
umkreisen. Das Plot ist wiederum schnell erzählt : Der frisch geschiedene Holz-
knecht ERICH512 beliefert die Bergbewohnerin AICHHOLZ gegen Bezahlung mit
Lebensmitteln. Die Natur hat den Waldarbeiter fĂĽr die Vergehen seiner Vergan-
genheit, etwa das Verprügeln seiner Kinder, mit schweren Arbeitsunfällen ge-
straft, die ihn körperlich zeichnen. Anders als die Touristen sieht ERICH in der
Natur keine Idylle, nur Gewalt und Schmerzen. Die AICHHOLZ hingegen, die
Frau auf dem Berg, versucht sich als Dichterin und produziert unablässig lyri-
schen Naturkitsch – eine »Verhöhnung literarischer Naturverherrlichung«513, so
Janz, auch zeitgenössische Autoren wie Peter Handke seien damit adressiert.514
Die AICHHOLZ will ERICH verfĂĽhren, was ihr allerdings nicht gelingt. Der Holz-
knecht interessiert sich vielmehr fĂĽr eine deutsche Managerin, von der er sich
509 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 214 f.
510 Jelinek, Oh Wildnis, S. 166.
511 Ebd., S. 166.
512 ERICH ist möglicherweise eine Reproduktion des ERICH aus Jelineks »Liebhaberinnen«-Ro-
man.
513 Janz, Elfriede Jelinek, S. 100.
514 Vgl. ebd.
92 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319