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Istvan : An Bauer spĂĽ i net !
Schorsch : MuĂźt aber Bursch, es geht um die Wurst.67
Schorsch drängt Käthe, die am liebsten »a Grafentöchterl aus der Provinz«
spielen möchte, zur Mitwirkung an einem Film über ein deutsches Mädchen
in Polen. Die Thematisierung dieses möglichen Engagements von Käthe stellt
eine von mehreren Anspielungen Jelineks auf Paula Wesselys Hauptrolle als
Marie Thomas in dem NS-Propagandafilm »Heimkehr« und somit ein re-
kurrentes Textelement des StĂĽcks dar.68 Auch das Jahr, in dem der erste Teil des
StĂĽcks spielt, 1941, kann bereits als Hinweis auf den Film interpretiert werden,
der 1941 erstmals in den reichsdeutschen (also auch österreichischen) Kinos
gezeigt wurde.
Schorsch : A daitsches Madl in Polen wirst jetzt spĂĽn. In der Wojwodschaft Luzk.
Und aus. Konnst scho onfongen, den Akzent lernen, gö !69
Die anderen Figuren akzeptieren das autoritäre Gebaren von Schorsch wei-
testgehend. Er scheint als Familienoberhaupt anerkannt zu sein. Resi gegenĂĽber
meint Schorsch lapidar, sie mĂĽsse froh sein, dass er und die beiden anderen
sie vor dem »Eithanasieprogramm«70 beschützen, wodurch klar gemacht wird,
dass Jelineks Hauptfiguren – die stellvertretend für viele andere Österreicher
stehen – im Jahr 1941 bereits wissen, was hinter dem von den Nationalsozialis-
ten als Euphemismus missbrauchten Wort »Euthanasie« steckt : Selektion und
Ermordung.
Auch ĂĽber die Judenvernichtungen weiĂź Schorsch Bescheid, wie in dem
Allegorischen Zwischenspiel deutlich wird. In einem Dialog mit Istvan stellt
er fest, dass die Juden plötzlich verschwunden seien (»Ich weiß es necht, wo se
hingekommen seind. Doch sehe ich sie schon seit längerem nicht mehr.«71), um
im nächsten Atemzug von den »Gasungsofen«72, den Verbrennungsöfen in
den Konzentrationslagern, zu sprechen. Neben den Judenvernichtungen werden
auch die Euthanasieprogramme wiederholt thematisiert. Schorsch, Käthe
und Istvan scherzen sogar ĂĽber deren Opfer, etwa in dem folgenden Textbei-
spiel über jene Kinder, die in dem Wiener Spital »Am Spiegelgrund« (heute :
67 BT, S. 155.
68 Siehe BT, S. 164 (zweimal) sowie S. 173.
69 BT, S. 140.
70 BT, S. 143.
71 BT, S. 154.
72 BT, S. 158.
120 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319