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Regimes in breiten Teilen der Bevölkerung ideologisch zu verankern und den
anvisierten Angriffskrieg vorzubereiten.647 Während des Kriegs erfüllte er eine
kalmierende Wirkung, weil er zur Aufrechterhaltung scheinbarer Normali-
tät beitrug und den Zusammmenhalt des (inzwischen schon angeschlagenen)
»Volkskörpers« propagierte. Nach dem Krieg beförderte er das Vergessen und
Verdrängen : Die Kriegshelden wurden von Helden eines scheinbar unpoliti-
schen Sportgeschehens abgelöst.
Mit willfährigen Sportlern, die sich gerne in der Öffentlichkeit produzieren,
rechnet Jelinek in ihrem Roman ebenso ab (die Autorin nennt als Beispiele etwa
Niki Lauda oder Thomas Muster, die sich »rücksichtslos zu feiern«648 geden-
ken) wie mit der österreichischen Nation, die diese bloß aus Eigennutz anfertige,
um von den Toten, die dieses Land hervorgebracht hat, abzulenken :
»Sportler : Österreich ist ja wie ein Bauplatz für diese halbfertigen Leute, die sich ohne
sich mäßigen zu müssen, auf ihren Brettln in den Abgrund stürzen, wahrscheinlich weil
ihnen die Räumlichkeiten oben schon zu voll sind.«649
Gerade in Ă–sterreich ist die Verquickung von Sport und Politik im National-
sozialismus ein noch weitgehend unaufgearbeitetes Feld.650 Auch die Kontinu-
itäten in diesem Bereich nach dem Zusammenbruch des Regimes 1945 wurden
von wissenschaftlicher Seite her bisher kaum untersucht. So stellt sich etwa die
Frage, warum eine der Autobiografien von Toni Sailer, Nationalheld und Drei-
fachsieger von Cortina, dem auch in »Die Kinder der Toten« gedacht wird651,
ausgerechnet von dem Autor und Lehrer Karl Springenschmid652 verfasst
647 Vgl. Müllner, Mobilisierung der Körper, S. 12.
648 KDT, S. 444.
649 KDT, S. 28.
650 So muss sogar ein massives österreichisches Forschungsdesiderat eingeräumt werden : Wie
Marschik 2008 feststellte, ist die NS-Zeit in Deutschland inzwischen die bestuntersuchte
Phase der Sportgeschichte, in Ă–sterreich klafft hier (abgesehen von Detailstudien) immer
noch ein großer weißer Forschungsfleck. Vgl. Marschik, Sportdiktatur, S. 8 f.
651 Vgl. KDT, S. 37.
652 Springenschmid war bereits 1932 in die (damals in Ă–sterreich noch illegale) NSDAP ein-
getreten und hatte sich im NS-Lehrerbund engagiert. Nach dem »Anschluss« 1938 hatte
er verschiedene, hochrangige Ă„mter inne : So war er etwa als Leiter des NS-Schulwesens
in Salzburg sowie als Leiter der Abteilung fĂĽr Erziehung und Kulturpflege im Reichsgau
Salzburg, ab 1943 auch als SS-Hauptsturmführer tätig. Ein Enkel Springenschmids veröffent-
lichte in den 1980er Jahren eine sehr beschönigende Biografie des Großvaters (Laserer, Karl
Springenschmid). Zu der eindeutigen und vielschichtigen Involvierung Springenschmids in
das NS-Regime und seinen ideologisierenden BĂĽchern vgl. Klee, Kulturlexikon zum Dritten
Reich, S. 581, sowie Reiter, Der Waldgänger, S. 307–319.
216 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319