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schien. Nach eigener Aussage hatte Jelinek ohnehin nicht zur Buchmesse mitfah-
ren wollen, denn »wo man sich, flankiert von Jazz-Musik, Burgschauspielern und
Veranstaltungen wie ›Oh, du mein Österreich‹ selbst zu feiern gedachte«798, wollte
sie nicht sein. Zudem war die Autorin nach Mayer/Koberg vermutlich noch damit
beschäftigt, den Skandal um ihr am Wiener Akademietheater im Herbst 1994 ur-
aufgeführtes Stück »Raststätte oder Sie machens alle« emotional abzuarbeiten. Die
Premiere des Stücks unter der Intendanz von Claus Peymann wurde weltberühmt
für ein Bild, das zwei Burgschauspielerinnen mit heruntergelassenen Höschen auf
einer Damentoilette zeigt. Es diente im Herbst 1994 als Beweisfoto für den an-
geblichen Kulturverfall in Österreich, die Kritiken des Stücks waren vernichtend.
Wolf Martin, »Hausdichter«799 der »Kronen Zeitung«, begann eine Reihe bizarrer
Hohn- und Spottgedichte über Jelinek zu verfassen und die Wiener FPÖ nutzte
die Stimmung, um sich im Rahmen ihres Wahlkampfs an den parteikritischen
Künstlern Jelinek und Peymann zu rächen.800
Nach außen hin gab sich das Land unter SPÖ-Bundeskanzler Franz Vra-
nitzky und ÖVP-Außenminister Alois Mock weltoffen, multikulturell und
zukunftsorientiert. In Wahrheit aber hatte Österreich mit dem Erstarken des
»Dritten Lagers« zu kämpfen, denn das politische Klima der 1990er Jahre wurde
von niemandem so sehr bestimmt wie von Jörg Haider und seiner prosperieren-
den Freiheitlichen Partei.801
In »Die Kinder der Toten« bleckt ein »junge[r] Führer« mit Hitlers Bauart
das Gebiss in dem »etwas schief geratene[n] Gesichtsfabrikat«802 und schnell
ist klar, wem die Autorin die Rolle dieses Doppelgängers zugewiesen hat, denn
als Haider-Kritikerin war Jelinek omnipräsent im öffentlichen Bewusstsein.803
Freilich verkörperte Haider all das, was Jelinek auf persönlicher wie auch auf po-
litischer Ebene ablehnte, ja zutiefst verabscheute, wie Mayer/Koberg bemerken :
»Er war ein Narziss wie aus einem ihrer Bücher, ein Sportlertyp wie Erika Kohuts Kla-
vierschüler Walter Klemmer, allerdings in der Landei-Ausgabe. Jörg Haider stand für
Provinzialität, Antiintellektualismus und neues Geld, dem alte Schuld anhaftete
…«804
798 Ebd.
799 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 197.
800 So ließ die Wiener FPÖ unter dem Motto »Freiheit der Kunst statt sozialistischer Staats-
künstler« Plakate aufhängen, auf welchen sich die Namen der Autorin Jelinek und des Burgt-
heaterdirektors Peymann mit den Namen von drei SPÖ-Politikern wiederfanden, was Jelinek
nach eigener Aussage zutiefst verletzte. Vgl. ebd., S. 197 f. Vgl. auch Kapitel 1.5 dieser Studie.
801 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 198.
802 KDT, S. 46.
803 Vgl. Kapitel 3.3 dieser Studie.
804 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 198. 241
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319