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zwischen hohlen, ritualisierten Schuldbekenntnissen und totaler Verleugnung.951
Auch das konsequente Leugnen von Schuld, das jedwede selbstkritische Refle-
xion auf kindlich-trotzige Manier ausschlieĂt, ist im Text wiederzufinden :
»Wir schwören, wir warns nicht, und schon waren wirs wirklich nicht.«952
»Seht ihr, wir sind doch ganz harmlos, wenn wir herrschen. Hauptsache herrschen. Wir
machen ja nichts. Und wir haben nichts gemacht.«953
»Wir haben keine Mitschuld an der Tat. Wir haben auch keine Morde befohlen.«954
Auch in Bezug auf diesen kleinen Dramentext bleibt daher festzuhalten, dass die
Autorin wiederum nicht den Holocaust per se, sondern vielmehr die unzulÀng-
liche Sprachverwendung thematisiert, mit der Mitverantwortung und Schuld
an den Verbrechen des Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs zwar ein-
gestanden werden, jedoch ohne die gebotene Eindeutigkeit und ohne ehrliches
Unrechtsbewusstsein : Die Sprache selbst wird damit als Mythos entlarvt â als
Form ohne Inhalt. Der »BrutalitÀt«955 von Jörg Haiders Rede kann Elfriede
Jelinek entgegen eigener EinschÀtzung mit ihrem sprachkritischen Verfahren
tatsÀchlich einiges entgegensetzen.
3.3.3.3 Vermeintliche Feinde und falsche Opfer
»Und wieder schlagen sie uns, die
selbsternannten FĂŒrsten, die DichterfĂŒrsten,
noch einmal, noch einmal.«956
Jelineks BĂŒhnenmonolog zeigt eine Figur, die sich selbst auffĂ€llig oft und in
verschiedenen ZusammenhĂ€ngen in die Position eines Opfers rĂŒckt : Von den
Linken werde er verfolgt, lamentiert der Sprecher, weltweit hÀtten sie ihn
»zum DÀmon gemacht«957 (ein Originalzitat aus Haiders News-Artikel958). Er
aber habe ihnen mit seinem RĂŒckzug nach KĂ€rnten ein Schnippchen geschlagen
951 Jelinek (sinngemĂ€Ă), vgl. Kapitel 3.3.3.2 dieser Studie.
952 LW, S. 11.
953 LW, S. 12.
954 LW, S. 13.
955 Jelinek, zitiert nach : Janke, Nestbeschmutzerin, S. 152. Vgl. auch Kapitel 3.3.3 dieser Studie.
956 LW, S. 12.
957 LW, S. 34.
958 Haider, zitiert nach : News, Nr. 10, 2000, S. 31. 265
»Das Lebewohl«â |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319