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tungen in sich trägt. Diese Bedeutungen werden von der Sprachgemeinschaft
als scheinbar natĂĽrlich wahrgenommen und daher nicht hinterfragt. Es wurde
festgehalten, dass die Mythendestruktion heute innerhalb des Sekundärwerks
sehr einhellig als Jelineks bevorzugtes Verfahren begriffen werde, wenn auch
die Begriffe »Dekonstruktion« und »Destruktion« in inkohärenter Verwendung
vorzufinden seien.8
Zuletzt wurde die finale VerknĂĽpfung all dieser AusdrĂĽcke in dem aus der
Zeithistorie entlehnten Begriff des österreichischen »Opfermythos« analysiert :
Dieser bezeichnet ein wirkungsmächtiges Geschichtsbild der Zweiten Republik,
das Ă–sterreich als das erste Opfer nationalsozialistischer Aggressionspolitik be-
schreibt. Verantwortung und Schuld fĂĽr die Verbrechen des Nationalsozialismus
und des Zweiten Weltkriegs fallen im Rahmen dieser Geschichtsdarstellung ei-
ner »Externalisierung«9 zum Opfer, welche die Alleinschuld an den größten
Nachfolgestaat des Deutschen Reichs, die Bundesrepublik Deutschland, ver-
weist. Es wurde gezeigt, dass sich in den Jahrzehnten nach 1949/50 tatsächlich
verschiedene, zum Teil widersprüchliche Narrationsstränge entwickeln konnten,
die neben dem Opfermythos etwa zu einer Heldenverehrung der gefallenen ös-
terreichischen Wehrmachtssoldaten, im Laufe der 1990er Jahre aber auch zur
so genannten »Mitverantwortungsthese«10 führten. In jüngster Vergangenheit
bildete sich weiters ein erinnerungsgeschichtlicher Kompromiss heraus, der
nach Gerhard Botz als »Opfer-Täter-Gedächtnis«11 bezeichnet wird : Dieser
beinhaltet sowohl das Eingeständnis der Mitverantwortung als auch das Be-
harren auf dem Opferstatus. Gerade in dem Nebeneinander widersprĂĽchlicher
Narrationen ist aber möglicherweise das eigentliche Charakteristikum österrei-
chischer Geschichtspolitik auszumachen.12
Neben der mitunter sehr deutlichen Kritik am österreichischen Opfermythos
spiegelt sich in Jelineks Texten genau dieses paradoxe österreichische Gedächt-
nis wider, das bis heute die Ausbildung einer adäquaten Sprache verhindert hat,
mit der Mitverantwortung und Schuld unmissverständlich und ohne selbstmit-
leidigen Unterton im öffentlichen Diskurs ausgedrückt werden. Zudem herrscht
immer noch – und wie gezeigt wurde, selbst im geisteswissenschaftlichen Dis-
kurs – mangelnde Sensibilität im Umgang mit historisch belasteten Begriffen.
Bei der extremen Rechten schließlich findet auch heute noch – und zum Teil
8 Vgl. Kapitel 1.1 dieser Studie.
9 Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus, S. 250.
10 Uhl, Das »erste Opfer«, S. 27.
11 Botz, Nachhall und Modifikationen, S. 601.
12 Vgl. Uhl, Das »erste Opfer«, S. 20 sowie S. 23–26.
282 | ResĂĽmee
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Title
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Subtitle
- Eine historiografische Untersuchung
- Author
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 328
- Keywords
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319