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als Staatsanwaltsgehilfe« 61. Als »Auskultant« (Gerichtsreferendar) wurde er
nach Wels in Oberösterreich versetzt und dem Ersten Staatsanwalt Erwin
Budinsky zugeteilt. Bald schon plagten ihn Zweifel an der Anwendbarkeit
bzw. »Richtigkeit« des Strafgesetzbuchs, das zu wenig auf die Individualität
der Angeklagten bzw. der Verbrechen Rücksicht nimmt, wodurch »soundso
viele Anklagen, soundso viele Schuldsprüche in den nebulosen Abgrund
der individuellen Fehljustiz« fallen würden (»Alle Menschen sind bekannt-
lich vor dem Gesetz gleich. Aber alle Menschen sind bekannt lich elementar
ungleich! Da stehen nun die absolut Ungleichen vor dem buchstäb lich glei-
chen Gesetz.«).62
Als Staatsanwaltsgehilfe fühlte er sich in dem Moment überfordert, als er
einer Hinrichtung beiwohnen musste. Schon zuvor belastete ihn die Tatsache,
dass er, frisch aus dem Krieg gekommen, nun in seiner Funk tion als Ankläger
genau das verurteilen sollte, was während der Kriegshandlungen als Verdienst
galt, und dass ein Zyniker von ihm hätte sagen können: »der Mörder klagte
den Mord an.« 63 Allen Skrupeln zum Trotz lässt Lothar die Exeku tion eines
verurteilten Straftäters durchführen:
Da wird er schon hereingeführt, zwischen zwei Justizwachen, der Gefängnisgeist-
liche geht voran. Ein junger Mensch ist es, er schaut zuerst in die falsche Richtung,
auf uns, dann in die richtige, auf den Galgen. Sein Gesicht […] bekommt einen
unsäg lichen Ausdruck um die schmalen Lippen, als er des Galgens ansichtig wird,
er schreit: »Hilfe!«
»Sie müssen jetzt sprechen«, sagt einer der Gerichtsleute leise zu mir. Was ich zu
sprechen habe, habe ich gelernt: »Ich übergebe den Delinquenten dem Herrn Scharf-
richter.« Ich spreche diesen Text als Antwort auf den Schrei: »Hilfe!« […] Dann dreht
sich alles um mich, »Ihnen ist von dem Karbidgeruch nicht ganz wohl geworden«,
sagt jemand neben mir, da bin ich wieder bei Bewußtsein, und am Galgen hängt der
Mann, der »Hilfe!« geschrien hatte, ganz starr.64
61 EL: Das Wunder des Überlebens, S. 25. – Vermut lich leistete Lothar tatsäch lich nur sein eines
freiwilliges Jahr ab, der Heimatschein im Brünner Stadtarchiv vermerkt unter dem Namen
Lothar Ernst Müller »als Auskultant beim k. k. Oberlandesgericht in Wien für 7. 12. 1915 nach
Wien zuständig« (Heimatschein Josef Müller, Stadtarchiv Brünn).
62 EL: Der Fluch der Hemmungslosigkeit. In: Neue Freie Presse, 6. 9. 1930, S. 1 ff., hier S. 2 f.
63 EL: Das Wunder des Überlebens, S. 26.
64 Ebd., S. 30 f. 1890 – 1925: Literarische
Nachwuchshoffnung38
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478