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hervorragend als Romanstoff, er zeigte sich sogar überzeugt: »Die Geschichte
dieser Liebe könnte einen Stümper zum Dostojewski machen, da sie so groß
an Menschlichem, so erschütternd und dämonisch wahr ist.« 173
Dennoch mutierte Lothar durch das Niederschreiben dieses Schicksals nicht
zu einem Dostojewski. Sein in die drei Kapitel Tatbestand, Anklage und Urteil
gegliederter Roman spaltete die Kritik, allerdings nicht unbedingt aufgrund
der Sterbehilfedebatte. Einigkeit unter den Rezensenten schien aber dahinge-
hend zu bestehen, die Strafgerichtsthematik als Kritikpunkt zu werten. Soma
Morgenstern schrieb in seiner Rezension des Buchs:
Daß der strenge Richter […] wegen vorsätz
lichen Mordes angeklagt, als Angeklagter
am eigenen Leid erfahren muß, wie lebensfern, psycholo
gisch falsch, wie lebensfremd
schon allein die Amtssprache der Gerichtsbarkeit sei, vertieft die Perspektive der
Erzählung. Allerdings vertieft es sie in so reich lich literarischer, reich
lich verbrauchter
Art, weil ja das Thema: der Richter als Angeklagter, einmal nicht neu und zum zwei-
ten ja doch nur in der Tragikomödie […] eine rechte Erfrischung erfahren könnte.
Daß der Strafprozeß, vor Geschworenen verhandelt, mit sechs »Ja« und ebensoviel
»Nein« und also auch mit einem Freispruch endet, ergibt eine seltsame Situa
tion für
den Leser […], denn er fragt sich: wozu der ganze Ansturm gegen veraltete Gesetze
und papierene Gerichtssprache, wenn man schließ
lich auch so freigesprochen werden
kann, obendrein in Salzburg?174
Joachim Wecker, der Die Mühle der Gerechtigkeit als »langweiligen schlechten
Roman« empfindet und ihn wie Morgenstern als »Tendenzbuch« kategorisiert,
stellt über den von Lothar »auf vierhundert Seiten plattgewalzten Kriminalfall«
bedauernd fest:
Statt, wie ein echter Dichter tun würde, die Tragik aufzuzeichnen, die der Unvoll-
kommenheit allen menschlichen Urteils über den Mitmenschen tra
gisch anhaftet
und daher auch die Justiz fehlbar macht, schildert Lothar zum fünfhundertsten Male
eine verknöcherte lebensfremde Justiz, die es gottlob im Leben nicht annähernd so
häufig gibt wie in der Romanliteratur der letzten zehn Jahre. Als Gegenwelt zu die-
ser karikaturhaft verzerrten Lebenssphäre tradi
tioneller Gebundenheit erscheint der
Subjektivismus eines Literaten, der in außerhalb der Justizmaschine alles verstehender
173 Ebd., S. 1 f.
174 S[oma] M[orgenstern]: Die Mühle der Gerechtigkeit. In: Frankfurter Zeitung, o. D. [Novem-
ber 1933], S. 7, Literaturblatt 51.
1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor
sind«86
Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478