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Herr Doktor Glaser über dieses selbe Problem an David Bach geschrieben habe, der
aus London zurückkommen wollte.59 Er ist aber nicht zurückgekommen.
Es hat gar keinen Sinn, um den Brei herumzugehen. Es ist ein zäher, klebriger,
gar nicht sauberer Brei. Wir haben es uns klarzumachen, dass man uns zumutet, ihn
auszulöffeln und uns dabei zu beschmutzen. Hier spreche ich gar nicht davon, dass
die Frage Nazi oder Nichtnazi mithereinspielt. Sie trägt nicht dazu bei, das Problem
zu erleichtern. Auch darin sieht man nach einiger Zeit klar. Was sie hier unmittelbar
nach Hitlers Einmarsch und vielleicht noch ein Jahr nachher getan haben, haben sie
vergessen. Oder wollen sie vergessen haben. In diesem einen Jahr dürften sehr viele von
ihnen Nazis gewesen oder mitgelaufen sein. Seither sind die meisten abgeschwenkt.
Auch darüber braucht man sich keiner Vermutung hinzugeben. Ungefähr Ende 1939
waren sie inner lich Hitler-
feind lich und außerdem überzeugt, dass der Krieg verlo-
ren gehen würde und verloren gehen müsse. Da sie das so stark fühlen und seither,
besonders in den letzten drei Jahren, so schwer gelitten haben, ist es verständ lich, dass
sie das Jahr 1938 aus ihrer Erinnerung radieren. Wir dagegen, die gerade dieses Jahr
so brennend in unserer Erinnerung tragen, wollen und sollen es nicht vergessen. Der
sich daraus entwickelnde Zwiespalt ist offenkundig, und weder auf der einen noch
der anderen Seite fehlt es an Berechtigung.
Ein drittes kommt hinzu, die Judenfrage. Der Antisemitismus hat nicht abgenom-
men. So wenig milder er in Amerika wurde, wo er allerdings von manchem Unerfreu-
lichen genährt wird, so eingewurzelt ist er hier geblieben. Das goldene Wiener Herz,
das man sich nie zu ihnen fassen konnte, haben die Juden nicht zurückgewonnen, seit
sie vergast wurden. Sie habens halt mit der Antipathie.
Mit anderen Worten, man stolpert bei jedem Schritt über ein Problem, dessen
Lösung die nächsten drei Genera
tionen brauchen wird, wenn nicht länger. Die Sache
wird desto schwerer, je mehr etwas in den Vordergrund tritt, wovon wir drüben fast
nichts wussten: der Einfuss der Insassen der Konzentra
tionslager, die man hier
Kazettler nennt. Wohlverstanden, es sind arische Kazettler, und das macht die Sache
fast teuf isch. Die jüdischen näm
lich haben es nicht überlebt. Ihre Rechnung ist mit
Gas beg
lichen worden. Die der Arier hingegen, die es überstanden – wohl auch des-
halb, weil sie eben als Arier erträg licher behandelt worden sein mochten –[,] geht
mit einem kolossalen Plus für sie aus. Sie sitzen überall in den leitenden Stellungen
59 Der Musikschriftsteller und Kritiker David Josef Bach gründete 1906 in Wien die Arbeiter-
Symphoniekonzerte und gab von 1918 bis 1922 mit Julius Bittner den Merker heraus. 1919
gründete er die sozialdemokratische Kunststelle, die er bis 1933 auch leitete. 1940 emigrierte er
nach England, er starb 1947 in London. Vgl. Henriette Kotlan-
Werner: David Josef Bach. In:
Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft, S. 915 – 928. 1946 – 1950:
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Open Access © 2016 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Ernst Lothar
Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ernst Lothar
- Untertitel
- Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender
- Autor
- Dagmar Heißler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20145-8
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 484
- Schlagwörter
- österreichischer Schriftsteller, unveröffentlichte Werke und Korrespondenz, literarische Einflüsse und Beziehungen, Rezeption, Emigration, Theater
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 9
- 2. Quellenlage 15
- 3. 1890 – 1925: Literarische Nachwuchshoffnung 27
- 4. 1925 – 1935: »Einer jener Kritiker, die auch ein Stück Theaterdirektor sind« 53
- 5. 1935 – 1938: Theater in der Josefstadt – Max Reinhardts »rechte Hand und linker Fuß« 99
- 6. 1938 – 1946: Exil – »Emigrieren ist eine Sache für junge Menschen, die sich nicht erinnern« 135
- 7. 1946 – 1950: Rückkehr – »… und in Lothars Lager war Österreich« 243
- 8. 1950 – 1959: »Von allen meinen Kritikern bin ich der unerbittlichste« 293
- 9. 1959 – 1974: »… und so muss ein Stückchen Torso für ein Stückchen Ganzes gelten« 335
- 10. Schluss 373
- Literaturverzeichnis 385
- Anhang 415
- Bibliographie Ernst Lothar 415
- Selbstständige Publikationen 415
- Unselbstständige Publikationen 421
- Inszenierungen 464
- Zeittafel 467
- Personenregister 473
- Werkregister 478