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Tanz
Pichler69 zitieren, um die Tanzleidenschaft der Wiener, ihre Vergnügungssucht, die alle Stände und Bevöl-
kerungsschichten umfasste, zu beschreiben. Scheinbar unabhängig von politischen wie gesellschaftlichen
Verhältnissen hielt der Wiener dort noch am Tanz fest, wo rundum alles in Trümmer sank. Der liebe Au-
gustin wurde zum heimlichen Patron eines, der Hab und Gut verloren hatte, dessen Optimismus sich aus
Misstrauen der Obrigkeit gegenĂĽber gleichermaĂźen speiste wie aus einer nĂĽchternen Bestandsaufnahme
der Vergangenheit, der der Gegenwart mit Gleichmut, dem MitbĂĽrger mit wachsamer Distanz begegnete.
Wien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war entscheidend geprägt durch die Herrschaft Kaiserin
Maria Theresias und ihres Sohnes Josephs II. Vor allem letzterer versuchte, durch behutsame Reformen
sozialen Spannungen zu begegnen, sein frĂĽher Tod machte viele Hoffnungen, die sich an ihn geknĂĽpft
hatten, zunichte. Josephs Bruder Leopold, der ihm 1790 auf den Thron folgte, nahm viele Reformschritte
zurück, ihm folgte bereits 1792 Franz II., der als letzter Kaiser des „Heiligen Römischen Reichs deutscher
Nation“ in die Geschichte eingehen sollte.
Die Jahrhundertwende war gekennzeichnet durch die napoleonischen Kriege, Wien wurde mehrfach be-
setzt. 1815 fand diese Zeit der Unruhe durch den Wiener Kongress einen scheinbaren Abschluss, es folgten
Jahre der politischen Stabilität, die durch gesellschaftlichen Stillstand erkauft waren. Mit den Revolutio-
nen der Jahre 1830–1848 war die biedermeierliche Ruhe endgültig dahin, wenngleich Bürgerrevolten und
Studentenunruhen in Wien weit milder ausfielen als in anderen europäischen Städten. Der Wiener neigt
zum Raunzen, nicht zur politischen Aktion, Metternich wusste dies nur zu gut.
Journale trugen das ihre dazu bei, beschwichtigend einzuwirken, wenn der Kessel schon am Brodeln war:
„Es wird nirgends so viel getanzt als in Oesterreich und in Wien, und das ist gut. Die tanzenden Völker
waren von jeher die glĂĽcklichsten; nur einzelne Menschen die tanzen erhitzen sich, bei Menschen in Mas-
sen ist es umgekehrt; tanzende Völker kühlen sich durch das Tanzen ab, und es findet die entgegengesetzte
Wirkung statt: jemehr sie tanzen destoweniger zeigt sich ein Schwindelgeist bei ihnen. Die wilden Völker
tanzen viel, darum sind sie im Grunde die zahmsten Menschen.“70
Im 18. Jahrhundert formten sich in Wien im Wesentlichen jene Tanzformen heraus, die Johann StrauĂź
Vater und Lanner am Beginn ihres Wirkens vorfanden und welche sie zur HochblĂĽte brachten. Die poli-
tischen Restriktionen – Zensur, Einschränkungen der Versammlungs- und Redefreiheit – steigerten in der
Bevölkerung die Sehnsucht nach einem Ventil. Sie fand es in den zahllosen Vergnügungen in Tanzlokalen,
Kirtagen und anderen Freiluftveranstaltungen71.
Von der Obrigkeit stillschweigend geduldet und durch Dekrete und Erlässe penibel geregelt, entwickel-
te sich eine Freizeitkultur, welche alle Gesellschaftsschichten einbezog. Sowohl weltliche wie kirchliche
FĂĽhrung sorgten fĂĽr ein geregeltes Treiben, der Staat durch Verordnungen, welche Ausgehzeiten, Schank-
und Tanzrechte regelten, die Kirche, in dem sie die Tage festlegte, an denen getanzt werden durfte oder
Konzerte gegeben werden durften.
Der sowohl für Lanner als auch für Strauß wichtigste Tanz war der Walzer bzw. der Ländler. Die Ent-
wicklungslinien, von Reingard Witzmann72 in bewundernswerter Detailgenauigkeit nachgezeichnet, ver-
liefen verschlungen, teils parallel, teils in Abfolge, selten klar zu trennen und wohl bis heute nicht immer
eindeutig zu bestimmen. Die Übergänge in Choreographie und Temponahme sind fließend, lokal un-
terschiedlich, zeitlich nicht abzugrenzen. So wie Wien um die Jahrhundertwende ein Vielvölkergemisch
darstellte, so wie sich unterschiedliche Stände und Generationen zum gemeinsamen Tanzen versammel-
ten, so bunt war die Palette der in einer einzigen Ballnacht vorgetragenen StĂĽcke.
69 U. a. Caroline Pichler, „Denkwürdigkeiten aus meinem Leben“, Nachdruck München 1914.
70 Theaterzeitung 6. 8. 1834.
71 Zahllos sind die zeitgenössischen Berichte über die diversen Kirtage rund um Wien, siehe u. a. Theaterzeitung 14. 8. 1832.
Besuchern aus dem Ausland fiel vor allem der unpolitische Charakter dieser Veranstaltungen auf.
72 Reingard Witzmann, Der Ländler in Wien, Wien 1976.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang