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Funktionalität – Autonomie – Interpretation
Das Lancieren der Novität und ihre Präsentation wurde Vorbild von Generationen von Rock- und Pop-
stars zweihundert Jahre danach. Man lässt eine Vorband spielen (Lanner war nie am Beginn der Tanz-
veranstaltung persönlich bereits anwesend, seine Kapelle unter Leitung seines vertrauten Ersten Geigers
Raab ließ das Publikum „warm“ werden), der Auftritt der Starband (diesfalls Lanners) wird zelebriert,
zur Einstimmung spielt man vertrautes Repertoire, ehe auf dem Spannungshöhepunkt die Uraufführung
erfolgt: Schlag Mitternacht (Geburt eines neues Tages), in tiefster „Finsternis“ (aus der heraus der neue
Walzer zur Dämmerung des anbrechenden Morgens führen wird), zuvor in Bulletins breit angekündigt,
spontan beklatscht und sofort in Herz und Beine geschlossen. Um vier Uhr FrĂĽh, nach der zehnten Wie-
derholung, begrĂĽĂźte man als alten Bekannten, was gestern noch ungeboren war.
Lanners ungeheure Popularität, seine Erfolge auf Werbegeschrei und Massenhysterie zu reduzieren, heißt
ĂĽbersehen, dass es fĂĽr ihn wie fĂĽr Johann StrauĂź Vater keinerlei Konzerttraditionen gab, auf denen sie
aufbauen hätten können. Zeitungen konnten Stimmungslagen nur verstärken, Verlage hilfreich zur Seite
stehen, ohne die Wirkung von Werk wie Interpret wäre Lanner einer unter Hunderten geblieben.
Rezensionen ĂĽber diverse Werke, Reflexionen ĂĽber Lanners Arbeit als geachteter Komponist und En-
sembleleiter erschienen in Tagesabständen. Ein einzelner soll (gekürzt) hier zitiert werden, weil er 1841
– also über fünfzehn Jahre öffentliches Wirken überblickend – versucht, dem Phänomen Lanner aus
unterschiedlichsten Blickwinkeln sich zu nähern:
„Alles was echt und wahrhaft populär zu werden verdient, wird es gewiß. So ist Lanners Muse auf un-
glaublich schnelle und wirksame Weise ins Leben des Volkes gedrungen. Der Name des talentvollen
Compositeurs, dem die Natur bei seinem Geburtstagsfeste eine FĂĽlle der schmeichelndsten Melodien als
Wiegenangebinde mitgegeben zu haben scheint, wird täglich verbreiteter, europäischer; der Walzer ist
durch ihn zur Höhe eines selbständig interessanten Musikstückes emporgehoben, und veredelt worden.
Denn Lanner arbeitet nicht bloĂź fĂĽr die FĂĽsse; sein Zweck reicht weiter, als eine beschleunigte Blutcircu-
lation im hĂĽpfenden Rhythmus hervorzubringen; er hat den Tanz in seinem poetischen Kern aufgefasst,
und, indem er seine sämmtlichen Leistungen nach diesem höheren Maßstabe entwarf, auch eine sehr
werthvolle Bereicherung des Musikfaches erzielt. Man rechnet im Allgemeinen den Lannerschen Walzern
ihre Melodie zum Vorzuge an. Ich glaube jedoch, daĂź man noch das Charakteristische derselben hinzu-
rechnen mĂĽsse. Es ist nicht eine unbestimmte Weichheit flĂĽchtig entschwindender Tongebilde, welche
uns darin entzückt; sondern das ewig holde Princip der Zärtlichkeit, das kosend und neckend, wie ein
Engelhaupt, hinter diesen Dreiviertelthaktecken hervorguckt … Nun denke man sich eine Bevölkerung
wie die von Wien, lebenslustig, munter, gewissermaĂźen alle Poren ihres Wesens dem Einzug der Freude
öffnend. Ist es nicht natürlich, daß ein Zauberer, wie Lanner, welcher den Wiener so durch und durch
kennt, und in den EigenthĂĽmlichkeiten seiner Lebenslust approsondirt hat, eine unglaubliche Wirkung
auf denselben hervorbringt? Ein Talent kann oft jahrelang, mĂĽhsam, ohne Frucht und Lohn arbeiten,
wenn es keine Sympathien zu erregen weisÂ
… Das Volk liebt in der Kunst die Notabilitäten nicht, welche
in den Etagen einer höheren Bildung über seinen Köpfen herum gehen, und nie unter seine Scharen sich
mengen, zu seiner Fassungskraft, und zu dem Niveau seiner geistigen BedĂĽrfnisse niemals sich herablas-
sen. Desto enthusiastischer feiert und ehrt es jene auserwählten Lieblinge, welche verständlich zu seinem
Sinne und Herzen reden, seine poetischen Instinkte mächtig aufregen, und in Formen sich bewegen,
welche seinem Geschmacke am liebsten zusagen … Lanner ist so eine Erscheinung … Es ist interessant
zu sehen, mit welch lebhafter Theilnahme sein Wirken allenthalben, wo er öffentlich auftritt, gefeiert
wird, wie man sich in seine Nähe drängt, um an der Quelle seiner bezaubernden Töne zu stehen, wie
schallendÂ
… die Bravos im Saale herumfliegenÂ
…, wenn seine Geige den ersten Ton angibtÂ
… Man halte
diesen Ausspruch für keine Lobhudelei … Es ist nur verdientes Lob, und jenes Maß von Gerechtigkeit,
welches dem genialen Componisten mit Rechte gebührt. Gold bleibt ewig Gold.“260
260 Theaterzeitung 17. 5. 1841.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang