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Virtuosentum
Höhepunkt“, die beiden hätten „noch einmal das Ideal des ausübenden und schöpferischen Künstlers“
verkörpert.277
Das Gesangsvirtuosentum der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts war zum Selbstzweck verkommen,
gegen den Gluck engagiert ankämpfte. In den Rossinischen, Bellinischen und Donizettischen Opern
feierten Koloratur und Spitzentöne letzte Triumphe, vom Wiener Publikum begeistert beklatscht, wäh-
rend Beethoven dieser Art Oper nur Unverständnis und Verachtung entgegenbrachte. Lanners zahlreiche
Bearbeitungen der italienischen Novitäten sind Spiegel des Enthusiasmus, mit denen die Wiener Erstauf-
fĂĽhrungen aufgenommen wurden.
Instrumentales Virtuosentum zeigte sich in unterschiedlichsten Facetten: das durch Europa ziehende
Wunderkind, möglichst jung (und hübsch ausstaffiert) hinterließ Spuren bis weit in das 19. Jahrhundert,
das Publikumsinteresse erlahmte rasch. Geiger wie Tartini hatten immerhin der Entwicklung der Technik
bedeutende Dienste erwiesen, die sich fruchtbar auch in Kompositionen niederschlugen. Liszt tat Glei-
ches fĂĽr das Klavier.
Die negativen AuswĂĽchse ergaben sich in erster Linie durch das Auftrittsverhalten und die rund um die
Konzerte angesiedelten Reklame- und Verwertungsgeschäfte.278 Dass Paganini und Liszt ihre Instrumente
perfekt beherrschten, hätte lange nicht ausgereicht, um das Publikum über einen längeren Zeitraum zu
fesseln. Paganinis Konzertreisen quer durch Europa (seine Karriere dauerte nur wenige Jahre) wurden
von der Presse aufmerksam beobachtet, jede noch so kleine Begebenheit (und sei es nur der Verlust einer
Geldbörse) war den Journalisten einen Artikel wert.
1828 gab Paganini eine Reihe von Konzerten in Wien, welche nachhaltig Spuren bei Publikum, Rezen-
senten, vor allem aber auch bei allen im weiteren Umkreis mit Musik Beschäftigten hinterließ. Nicht
von ungefähr hatte Paganini Wien als erste Stadt außerhalb Italiens für Gastspiele auserkoren – und
nicht zufällig blieb es bei diesem Einzelereignis. Insgesamt vierzehn Konzerte spielte er zwischen März
und Juli im Redoutensaal, im Burgtheater und im Kärntnerthortheater. Sein Spiel erregte Bewunde-
rung, die ganze Stadt war angesteckt von einer Hysterie, die bis ins Alltagsleben hineinreichte, aus
Alltagsgegenständen Devotionalien „à la Paganini“ machte und aus Paganini selbst mehr Teufel als
Mensch. Seine technischen Fähigkeiten waren unbestritten, seine künstlerischen hingegen umso mehr.
Zwischen Furcht und Belustigung schwankten die Wiener in ihren Reaktionen, den romantischen
Übertreibungen in den ungezählten Schilderungen deutscher Dichter279 standen sie mit gesundem
Misstrauen gegenĂĽber.
StrauĂź und Lanner sowie zahllose ihrer Kollegen reagierten mit Bearbeitungen auf Paganinis Werke.
Das berühmte Thema aus dem 2. Violinkonzert „mit dem Glöckchen“ eignete sich am ehesten und wur-
de gnadenlos ausgequetscht. KĂĽnstlerisch bedeutsam waren diese Quodlibets so wenig wie die anderer
Zeitgenossen, die rasch auf einen fahrenden Zug aufsprangen und ihn an der nächstbesten Haltestelle
skrupellos verlieĂźen.
Weit mehr als durch seine Kompositionen erregte Paganinis Selbstdarstellung auf den Konzertpodien das
Interesse – furchtsame Bewunderung wie entschiedene Ablehnung inklusive – seiner Zuhörerinnen und
Zuhörer. Paganini inszenierte seine Auftritte wie sein Spiel (gerne nur auf der tiefsten Saite), theatralische
Effekte (Reißen der höheren Saiten) inklusive. Sein Erscheinungsbild – schlecht sitzender Frack, bleiches
Gesicht, eckige Bewegungen – tat ein Übriges dazu, um das Dämonische zu unterstreichen: „… ist es ein
Toter, der aus dem Grab gestiegen, ein Vampir der Violine, der uns, wo nicht das Blut aus dem Herzen,
doch auf jeden Fall das Geld aus den Taschen saugt?“280
277 Honegger/Massenkeil a.a.O. Artikel „Virtuose“.
278 Siehe auch den spöttischen Artikel „Der Virtuosen-Führer“ in: Theaterzeitung, Dezember 1842.
279 U.Â
a. Heinrich Heine, „Florentinische Nächte“ (1837), in: Sämtliche Schriften, hrsg. Klaus Briegleb, Frankfurt/Main 1981.
280 Heine ebd.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang