Seite - 109 - in Joseph Lanner - Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
Bild der Seite - 109 -
Text der Seite - 109 -
109
Romantik – Biedermeier
Der Kapellmeister in seinen vielfältigsten Aufgaben rückt in den Mittelpunkt des Interesses, er herrscht,
vermittelt und fasziniert. Er erst erzeugt die Affekte im Publikum wie im Rezensenten, er entscheidet ĂĽber
Erfolg oder Misserfolg. Er ist durch und durch romantisch (ist er antiromantisch, so ist er es bewusst).
Sulzers Verdikt „In die letzte Stelle setzen wir die Anwendung der Musik auf Concerte, die blos zum
Zeitvertreib und etwa zur Übung im Spielen angestellt werden. Dazu gehören die Concerte, die Sympho-
nien …, die insgemein ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, oder ein artiges und unterhal-
tendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwätz vorstellen.“284 träfe Lanner ins Mark, hätte er sich
jemals mit theoretischen Überlegungen beschäftigt. Seine zahllosen Réunions und Soirées wären mit der
oben zitierten Definition nicht übel charakterisiert worden, könnte man jeweils im Vorhinein feststellen,
was nun „das Herz beschäftigt“ (und vor allem: wie). Das Konzert- wie Opernleben noch um 1840 war
in Wien weit von Standards entfernt, die weitergehende ästhetische Urteile überhaupt zugelassen hätten.
Liebhaberkonzerte vermittelten mehr Ahnung als Vollendung, engagierte Dilettanten konnten zuweilen
wahrhaftigere Ergebnisse hervorbringen als professionelle Routiniers. Die Qualität der Aufführungen ist
nicht mehr nachprüfbar, zu vage sind die Schilderungen, zu sehr von persönlichem Geschmack und Vor-
lieben die Rezensionen geprägt.
Selbst wenn man Lanners Leistungen als Orchesterleiter und die von ihm durchgefĂĽhrten Konzerte wĂĽr-
digt, der Walzer- und Ländlerkomponist bleibt biedermeierlich-blass, findet unversehens in einer Ecke
sich wieder mit Spitzwegs Bettelmusikant und Stifters Zitherspieler. Ausgerechnet dem Komponisten der
Walzerkette „Die Romantiker“ wird romantisch als schmückendes Adjektiv nicht zuteil.
Das war nicht immer so: zu seiner Zeit wurde Lanner und seine Musik durchaus als „romantisch“ emp-
funden. Seine Auftritte als Leiter seines Orchesters, als Interpret seiner auch konzertant dargebotenen
Piecen beflügelten die Phantasie der Zuhörer und Journalisten: „Wenn Lanner, der unermüdliche aalför-
mige Proteus im Walzerreiche musicirt, dann ist dies die schönste Illusion … die Molltöne Lanner’scher
Violinsaiten durchströmen mit magischer Wirkung die Herzen der Zuhörer. Nicht der bacchantische
Tanz im vulkanischen SchweiĂźe des Antlitzes, die tarantellartig gestochene FuĂźgymnastik entzĂĽckt das
Auge, ein höheres, tieferes Entzücken birgt das ästhetische Lauschen Lanner’schen Kunstsinnes … Lan-
ner, …der mit seiner jovialen, belebenden Tanzmusik den Griesgramigen metamorphosirt, die Furchen
des Kummers auf seiner Stirne glättet …“285
Vieles entstammt dem gängigen romantischen Vokabular, sei es in der Beschreibung von Musik, von Li-
teratur, von bildender Kunst. „Illusion“ gehört zur Grundbefindlichkeit des Romantikers, der die Wirk-
lichkeit flieht, um sich seine eigene zu schaffen. Die Assoziation von Moll mit Melancholie, ja Trauer, ist
ein immer wiederkehrender Topos der Musikgeschichtsschreibung.
Nun könnte man über die oben zitierte Schilderung leichten Herzens hinwegsehen, würde sie nicht in
einigen wesentlichen Punkten Sulzers verächtlicher Klassifizierung der unterhaltenden Musik diametral
entgegenstehen. Zunächst wird Tanz gegen aufmerksames Zuhören ausgespielt: Tanzen ist nicht roman-
tisch, Tanzen ist Sport, ist Bewegung, ist bacchantische Lust, die das Herz nicht anzusprechen, das Hirn
nicht anzuregen vermag. Der ästhetische Genuss – also das, was Apologeten der „absoluten Musik“ als das
übergeordnete Ziel eines Konzertbesuches als allein selig machend gelten lassen – ergibt sich nur durch
das Zuhören, das „Lauschen“. Paradoxon hier: es ist die gleiche Musik, die zu Tanz anregt, aber auch Hör-
genuss inklusive Gemütsaufwallung (oder –beruhigung) hervorbringt, es ist die gleiche Veranstaltung, die
die Tanzenden zu wilder Lust anstachelt, den Zuhörer aber in romantische Gefilde driften lässt. Und es
sind die identen Walzer, die unter Lanners kundiger FĂĽhrung beide Reaktionen hervorzurufen imstande
sind.
284 Johann G. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, zitiert in: Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel
1978.
285 Der Wanderer, 22. 8. 1840.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang