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Joseph Lanner – Leben und Werk
Die Werke lassen von ihrem Interpreten sich nicht trennen. „Er selbst, der Unnachahmliche, Einzi-
ge, gebiethet mit schöpferischen Griffen und Zügen den einschmeichelnden Tönen der Saiten, denen
wir mit Entzücken lauschen, bei denen wir unwiderstehlich aufjubeln.“286 Vor Lanner (abgesehen von
Virtuosen wie Paganini, siehe oben) sind derart enthusiastische Deskriptionen einer Interpretenleistung
absolut unüblich. Zwar mag Lanners äußeres Erscheinungsbild287 einiges zu romantisierender Verklärung
beigetragen haben, es darauf zu reduzieren, wäre ungerecht: „Aber man sehe und höre den Virtuosen
in seiner interessanten, räthselhaften, fast faustischen Erscheinung und Förmlichkeit, und bleibe still,
wo Einem das Herz in der Brust mächtig pulsirt …“288 Die zierlichen Vignetten auf dem Titelblatt der
Klavierausgaben finden ihre Entsprechung in der Inszenierung des Auftritts Lanners: „In der That ist
der geniale Lanner auch der Künstler, dem es seiner ganzen Befähigung nach allerliebst ansteht, vor den
Augen des Publikums förmlich als eine Art Concertist, im Rücken ein herrliches Stein’sches Fortepiano,
zu erscheinen.“289 Vor unseren Augen entsteht das Bild eines geigenden Lanners, hineingestellt in einen
von Blumen umrankten Ehrenbogen, umgeben von Tanzpaaren, Musikern oder huldvoll Lorbeerkränze
reichenden Musen. Wie anders treten uns Beethovens BĂĽsten entgegen: titanenhafter Blick, auf sich kon-
zentriert, in sich hörend, ohne schmückendes Beiwerk oder dekorative Putten um sein markantes stets
geneigtes Haupt.
Typisch romantische Chiffren finden sich in Lanners Walzern zuhauf. Ăśber eine unbestimmte GefĂĽhls-
haltung hinaus lassen konkrete Elemente sich bestimmen, lassen Querverbindungen vor allem zu Schu-
bert sich ziehen.
Unbestritten gehört dazu „Wandern“ in seinen vielfältigsten Ausformungen. Wandern in der freien Na-
tur, zur Erholung von den Mühen der Stadt, prägte das Freizeitverhalten im 19. Jahrhundert bis weit in
die „Wandervogel“ – Bewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Wandern ist Bewegung, gleichmäßig,
zweckfrei.
Konzeption, aber auch Rezeption des Walzers zeigen ähnliche Züge: das „Walzen“ ist nicht nur wildes
„Herumgehopse“ wie der Galopp, sondern in seiner gleichmäßigen Bewegungsart dem Wandern nicht
unähnlich. Beides ist „sinnlos“, ist Selbstzweck. Wandern wie Tanzen im ewig gleichen Schrittablauf hat
keinen Anfang, kein Ende, kein Ziel. Es kann unterbrochen oder abgebrochen werden, es ermĂĽdet, kann
bis zur totalen Erschöpfung gehen.
Die Gleichmäßigkeit der Bewegung macht den Kopf frei für Gedanken. Der Walzer war nicht zuletzt
deshalb so beliebt, weil er keine komplizierten Tanzschritte kannte, das Tanzpaar sich nicht auf Figuren
konzentrieren musste, sondern sich seinen GefĂĽhlen ganz hingeben konnte. Wandern in der Romantik
war Suche, nach Sinn, nach Selbstverwirklichung, nach Abenteuer (Abenteuer auch im Ballsaal: die unbe-
deutende Kammerzofe tanzte mit ihrem eigenen Dienstherrn, der KĂĽchenjunge mit der adeligen Dame).
Die Albertibässe der Vorklassik, die simplen Begleitfiguren des Rokokos transformiert Schubert in Chiff-
ren der Wanderbewegung, in munteres Ausschreiten, in müdes Sich-vorwärts-schleppen.
Freiwerden für Gedanken ist in der Romantik nicht nur positiv besetzt: dem immer gleichen Schritt –
Fuß vor Fuß – entsprechen die bohrenden Gedanken, die den Wanderer der „Winterreise“ aus der Stadt,
in den Wahnsinn treibt. Das ostinate Fis der lieben Farbe wird zu den unerbittlich pochenden Portato-
Achteln, mit denen der Geselle seinem Mädchen eine Gute Nacht wünscht. Fremd ist er eingezogen
(fremd ging die Dame, der Herr zur maskierten Redoute), fremd wieder ausgezogen, da er sein GlĂĽck
nicht fand (enttäuscht kehrte die Dame, der Herr wieder heim in die ärmliche Stube oder den leeren
adeligen Salon). Ewiges Weiterwandern und Weiterwalzen, ewig gleiche (dĂĽstere) Gedanken, bis hin zum
psychischen wie physischen Zusammenbruch.
286 Der Wanderer, 27. 8. 1840.
287 Siehe auch: Joseph Lanner: Zur Person, in: Lanner-Katalog S. 135ff.
288 Der Wanderer, 3. 11. 1840.
289 Ebd.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Titel
- Joseph Lanner
- Untertitel
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Autor
- Wolfgang Dörner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Abmessungen
- 21.0 x 29.5 cm
- Seiten
- 752
- Schlagwörter
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang