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theoretische Basis zur Erforschung und Beschreibung des Deutschen sein könne,
und zwar unter im Vergleich zu den 1990er- Jahren vom Verfasser angenomme-
nen „dramatisch veränderten außersprachlichen/geopolitischen Verhältnissen,
nämlich in einem sich in atemberaubender Geschwindigkeit ‚supra
national‘ for-
mierenden makrosozialen bzw. -ökonomischen Kontext, den man über kurz oder
lang wohl ‚postnational‘ bezeichnen wird können“ (Glauninger 2007, 1). Neben
einer aufgrund der historischen Entwicklung angenommenen „Sonderstellung des
Deutschen“, das nie eine monozentrische Phase durchlaufen habe, die für andere
plurizentrische Sprachen postuliert werde, sei das Deutsche „permanent ‚pluri-
zentrisch‘ geprägt“ worden (a. a. O., 2). Warum deshalb die Annahme staatsspezi-
fischer Varietäten theoretisch nicht adäquat sein sollte, geht aus der Argumentation
allerdings nicht klar hervor. Als zweites Gegenargument wird die „Inadäquatheit
einer ‚staatsnationalen‘ respektive ‚nationalstaatlichen‘ Konzeption für die ‚pluri-
zentrische‘ Theorienbildung im Hinblick auf die deutsche Sprache“ (a. a. O., 4) ins
Treffen geführt. Es fehle im deutschsprachigen Raum mit Ausnahme der Schweiz
„ein im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung (historisch) stabil verankertes
voluntativ- konstitutionelles Verständnis von ‚Nation‘“. Denn die Staatengebilde
der BRD und Österreichs würden „Produkte einer konstitutionell nachgerade
atypischen, bis in die jüngere und jüngste Vergangenheit nur im Einvernehmen
mit den Siegermächten der beiden Weltkriege möglichen Genese“ darstellen. Der
„(voluntativ-
konstitutionelle) ‚Nations‘-Begriff“ sei inadäquat. Und den Vertretern
des Modells einer plurinationalen Sprache könne man „einen besonders schwer-
wiegenden Vorwurf nicht ersparen“: (a. a. O., 4) Sie negierten bzw. unterschätzten
die aufgrund der „Katastrophe des Nationalsozialismus“ beobachtbare Stigmati-
sierung bzw. Tabuisierung alles „Nationalen“ im deutschsprachigen Raum, meint
Glauniger. Auch hier wird unser Erachtens nach nicht klar, inwiefern das ein Argu-
ment gegen eine staatsbezogene Modellierung von sprachlicher Variation sein kann
oder soll. Festzustellen ist allerdings, dass die reiche wissenschaftliche Literatur
zur österreichischen Nation und zu österreichischen Identitätskonstruktionen sehr
wohl die Genese eines ausgeprägten Nationalbewusstseins im Sinn einer Staats-
nation und Konsensualnation zumindest in der Zweiten Republik nach 1945 aus-
führlich dokumentiert (z. B. Heer 1981, Kreissler 1984, Bruckmüller 1996, Wodak
et al 1998; 2009, de Cillia/Reisigl/Wodak 1999, de Cillia/Wodak 2006, 2009, vgl.
auch Fußnote 15 oben). Glauninger schreibt in der Folge „Teilen der Forschung
bzw. Publizistik“ „sozialsymbolisch verbrämte ideologische Wunschbilder“ zu, die
in Widerspruch zur ökonomisch-
politischen Realität stünden. Die „zunehmend
supranationale außersprachliche Wirklichkeit“ würde ein national determinier-
tes Beschreibungsmodell des Deutschen endgültig ad absurdum führen. Für die
Linguistik ergebe sich die Aufgabenstellung, mit einer zeitgemäßen, „vielleicht
‚supra‘- bzw. ‚postnational‘ orientierten Theorie“ die komplexe Heterogenität des
Deutschen zu beschreiben (a. a. O., 6). Dazu könnte man an das „bereits elaborierte“
pluriareale Modell anknüpfen.
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| Theoretische Einordnung des
Forschungsgegenstandes38
Österreichisches Deutsch macht Schule
Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF)
- Titel
- Österreichisches Deutsch macht Schule
- Untertitel
- Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
- Autoren
- Rudolf de Cillia
- Jutta Ransmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20888-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 266
- Schlagwörter
- Austriacism, teaching German, dialect, Austria, Austrian German, Austriazismus, Deutschunterricht, Dialekt, Lehrbücher, Lehrpläne, Österreich, Österreichisches Deutsch, Plurizentrik, Pluriarealität, Spracheinstellungen, Sprachnormen, Standardsprache
- Kategorie
- Lehrbücher
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 10
- 2 Theoretische Einordnung des Forschungsgegenstandes Innere Mehrsprachigkeit – sprachliche Variation – Sprach/en/unterricht 14
- 2.1 (Innersprachliche) Mehrsprachigkeit und sprachliche Variation 14
- 2.2 Status und Rolle/Funktion der deutschen Sprache in den deutschsprachigen Ländern/Regionen 16
- 2.3 Sprachliche Variation und deutsche Sprache 21
- 2.4 Konzeptualisierungen der Variation im Standarddeutschen 24
- 2.5 Sprachliche Variation der deutschen Sprache in Österreich 46
- 2.6 Sprachnorm und Sprachenunterricht 52
- 2.7 Forschungslage zum österreichischen Deutsch als Unterrichts- sprache und ExpertInnenbefragung 57
- 2.7.1 Forschungslücken/Forschungsfragen 59
- 3 Forschungsfragen und Untersuchungsdesign 61
- 4 Analyse von unterrichtsrelevanten Dokumenten (Lehrpläne, Studienpläne, Lehrbücher) 68
- 5 Empirische Erhebung bei LehrerInnen und SchülerInnenan österreichischen Schulen Beschreibung der Daten 89
- 6 Ergebnisse der empirischen Erhebung an Schulen 120
- 6.1 Konzeptualisierung der Variation des Deutschen in Österreich 120
- 6.2 Spracheinstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen 144
- 6.2.1 Korrektheit des österreichischen Deutsch 144
- 6.2.2 Einstellungen gegenüber dem österreichischen, deutschen und Schweizer Standarddeutsch: Polaritätsprofile 152
- 6.2.3 Sprache – Identität 154
- 6.2.4 Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Einstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen unter LehrerInnen und SchülerInnen 161
- 6.3 Korrekturverhalten 163
- 6.5 Dialekt – Umgangssprache – Standard? Angaben zum Varietätengebrauch innerhalb und außerhalb der Schule 198
- 6.6 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Erhebung an den Schulen 215
- 7 Schlussbetrachtung und Ausblick 221
- Anhang 232
- Literatur 237
- Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 252
- Sachregister 256