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diesen Normbegriff auch „systemlinguistischen“ Normbegriff nennen. Der
„weitere“ Normbegriff sehe die Sprache im Gesamtzusammenhang sozialer
Interaktion. Sprachliche Normen seien danach eine Teilmenge von sozialen
Normen, Vorschriften und Erwartungen, die mit der Verwendungsabsicht und
der Verwendungssituation von sprachlichen Äußerungen in Zusammenhang
stünden (a. a. O., 59). Die sprachlichen Normen seien hier auf die kommuni-
kative Angemessenheit von sprachlichen Äußerungen bezogen. Dieser zweite
Normbegriff sei einer soziolinguistisch ausgerichteten Sprachwissenschaft ver-
pflichtet, die die Homogenitätsannahme der Systemlinguistik aufgebe. Man
könne ihn daher auch „soziolinguistischen Normbegriff“ nennen (a. a. O., 60).
Diese Dichotomie entspreche einer Differenzierung von „Systemnorm“ und
„Verwendungsnorm“: „Systemnormen sind situationsunabhängige sprachliche
Normen, während Verwendungsnormen situationsabhängige sprachliche Nor-
men darstellen“ (60, Herv. im Original). Kleineidam verwendet dafür schließ-
lich den Terminus „kommunikative Norm“ (61).
Bei Sprachnormen geht es auch um die Unterscheidung zwischen impliziten
oder expliziten verbindlichen Regeln. Laut Bussman (1990) beruhen Sprach-
normen entweder implizit auf einem Konsens der SprecherInnen oder sie sind
explizit festgesetzt und legitimiert durch Kriterien wie Verbreitung, Alter, Struk-
turgemäßheit und Zweckmäßigkeit – das sei die „präskriptive Norm“. Dabei sei
die Abgrenzung von Sprachnormen und Regeln des Sprachsystems methodisch
schwierig, da die Existenz impliziter Sprachnormen nur aus der Regelhaftigkeit
des Sprachgebrauchs erschlossen werden könne – die so genannte „deskriptive“
Norm, die auch als Gebrauchsnorm bezeichnet wird (Bussmann 1990, 710).
Dem (eher didaktisch orientierten) präskriptiven Normbegriff steht also die
(eher linguistisch orientierte) deskriptive Sprachnorm, die Gebrauchsnorm gegen-
über. Sie zielt auf den tatsächlich vorkommenden Sprachgebrauch ab und umfasst
somit auch Formen eines Standards, die zwar präskriptiv „falsch“, in der Praxis
aber weit verbreitet sind. Weiter gefasst meint die Gebrauchsnorm das allen Mit-
gliedern einer Sprachgemeinschaft verfügbare Regelsystem einer Sprache oder
von sprachlichen Varietäten, auch von Nonstandardvarietäten.
Normen können sich auf alle sprachlichen Bereiche beziehen, von der Morpho-
logie und Syntax, die im Fokus der Systemlinguistik stehen, bis hin zur Pragmatik,
deren Regeln weniger explizit und selten in einem Kodex festgelegt sind. So ver-
standen sind sprachliche Normen unterschiedlich verbindlich, viele sind nicht
schriftlich notiert, und sie unterliegen wie alle sozialen Normen dem sprachlichen
und gesellschaftlichen Wandel. Dabei gibt es außer im Bereich der Rechtschrei-
bung mit dem Rat für deutsche Rechtschreibung 38 keine Normierungsverfahren
38 „Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist ein zwischenstaatliches Gremium, das vonseiten der
staatlichen Stellen damit betraut wurde, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen
Sprachraum zu bewahren und die Rechtschreibung auf der Grundlage des orthografischen
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO. KG, WIEN KÖLN WEIMAR
| Theoretische Einordnung des
Forschungsgegenstandes54
Österreichisches Deutsch macht Schule
Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF)
- Titel
- Österreichisches Deutsch macht Schule
- Untertitel
- Bildung und Deutschunterricht im Spannungsfeld von sprachlicher Variation und Norm
- Autoren
- Rudolf de Cillia
- Jutta Ransmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20888-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 266
- Schlagwörter
- Austriacism, teaching German, dialect, Austria, Austrian German, Austriazismus, Deutschunterricht, Dialekt, Lehrbücher, Lehrpläne, Österreich, Österreichisches Deutsch, Plurizentrik, Pluriarealität, Spracheinstellungen, Sprachnormen, Standardsprache
- Kategorie
- Lehrbücher
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung 10
- 2 Theoretische Einordnung des Forschungsgegenstandes Innere Mehrsprachigkeit – sprachliche Variation – Sprach/en/unterricht 14
- 2.1 (Innersprachliche) Mehrsprachigkeit und sprachliche Variation 14
- 2.2 Status und Rolle/Funktion der deutschen Sprache in den deutschsprachigen Ländern/Regionen 16
- 2.3 Sprachliche Variation und deutsche Sprache 21
- 2.4 Konzeptualisierungen der Variation im Standarddeutschen 24
- 2.5 Sprachliche Variation der deutschen Sprache in Österreich 46
- 2.6 Sprachnorm und Sprachenunterricht 52
- 2.7 Forschungslage zum österreichischen Deutsch als Unterrichts- sprache und ExpertInnenbefragung 57
- 2.7.1 Forschungslücken/Forschungsfragen 59
- 3 Forschungsfragen und Untersuchungsdesign 61
- 4 Analyse von unterrichtsrelevanten Dokumenten (Lehrpläne, Studienpläne, Lehrbücher) 68
- 5 Empirische Erhebung bei LehrerInnen und SchülerInnenan österreichischen Schulen Beschreibung der Daten 89
- 6 Ergebnisse der empirischen Erhebung an Schulen 120
- 6.1 Konzeptualisierung der Variation des Deutschen in Österreich 120
- 6.2 Spracheinstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen 144
- 6.2.1 Korrektheit des österreichischen Deutsch 144
- 6.2.2 Einstellungen gegenüber dem österreichischen, deutschen und Schweizer Standarddeutsch: Polaritätsprofile 152
- 6.2.3 Sprache – Identität 154
- 6.2.4 Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Einstellungen gegenüber den Varietäten des Deutschen unter LehrerInnen und SchülerInnen 161
- 6.3 Korrekturverhalten 163
- 6.5 Dialekt – Umgangssprache – Standard? Angaben zum Varietätengebrauch innerhalb und außerhalb der Schule 198
- 6.6 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Erhebung an den Schulen 215
- 7 Schlussbetrachtung und Ausblick 221
- Anhang 232
- Literatur 237
- Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 252
- Sachregister 256