Seite - 15 - in WeXel oder Die Musik einer Landschaft - Das Geistliche Lied, Band 1
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Zum vorliegenden Band
Welcher Landesfürst war je strenger gegen alle religiöse Mißbräuche, als Kaiser Joseph II höchstsel. An-
denkens? Und doch fand er die Absingung derley Lieder bei Leichenbegängnissen so wenig in der Klasse
derselben, daß er keinen Anstand nahm, diesen Liedern in der von ihm herausgegebenen allerhöchsten
Stolordnung5 dd. 27. Jänner 1781 einen eigenen Platz anzuweisen, und sie als einen Stolartikel auf-
zunehmen. Dort heißt es: Den Musicis, so mit der Leiche gehen, für den grimmigen Tod 2 f 30 kr. – Hat
der grimmige Tod6 in der Stolordnung seinen Platz angewiesen, so dĂĽrfen neben ihm auch die ĂĽbrigen
Totenlieder, die wir eingesehen, und nicht so grimmig, sondern sanfter, tröstender gefunden haben,
stehen bleiben.
[…] Nur müssen wir zuletzt bemerken, daß durch die Abstellung der Leichenlieder den meistens sehr
gering dotierten Schullehrern eine GebĂĽhr entgehen wĂĽrde.
Aus allen diesen Gründen, die in den dechantlichen Berichten weitläufiger angeführt werden, raten
wir fĂĽr die Abstellung dieser Lieder nicht ein.
Wien, den 25. April 1800 Offizial u. erzbischöfl. Konsistorium
(Wien, Diözesanarchiv I/XXXVI, Nr. 90, 1800. Abschrift NÖVLA, A 380)
Dieses kirchliche offizielle Schreiben betraf nur die „Leichenlieder“ am Grabe und nicht das Leich-
wachten im Haus des Verstorbenen. Bei dieser Form der Verabschiedung mit Gesang und Gebet vor
der kirchlichen Beerdigung war kein Priester anwesend.
Zwei Jahrhunderte nach den Stellungnahmen des erzbischöflichen Konsistoriums und der nieder-
österreichischen Landesregierung finden wir im Liedgut zur Totenwache und zum Begräbnis nicht
nur Totenlieder und Gesänge zur Beerdigung, sondern auch eine Fülle von Liedern, welche von den
Sängerinnen aus ihrem religiösen, aber auch aus ihrem allgemeinen Liederschatz in das brauch-
gebundene Singen des „Leichhüatns“ aufgenommen wurden. Darin liegt eine mögliche Begründung
fĂĽr die unterschiedlichen Gattungen des vorliegenden Liedmaterials. Durch ihre Anpassung an den
Totenbrauch wurden sie einer anderen Funktion zugeführt, als es dem Inhalt des Liedes entsprä-
che. Wie bisher, haben die im religiösen Volksgesang beliebten Marienlieder7 einen großen Anteil am
Liedgut dieses Brauches, da in ihren letzten Strophen die Bitte um Schutz und Segen in der Sterbe-
stunde ausgesprochen wird. Eine ähnliche Anpassung zeigt sich auch bei älteren Kirchenliedern und
einigen der anderen Liedgattungen, welche durch mĂĽndliche Tradierung ihren Weg ins Repertoire der
„Leichhüatlied-Sängerinnen“ fanden.
Welche Bedeutung die „Leichhüatlieder“ für den bäuerlichen Alltag hatten, zeigen Anmerkungen,
Streichungen oder Ergänzungen einzelner Strophen aufgrund politischer Veränderungen im Vor-
beterbuch (1842) von Franz Wurmbrand:8 Ein Bittlied zu Maria ist beispielsweise mit dem Wunsch
„Beschütz das Haus von Österreich“ ergänzt. Die Übernahme einzelner Motive – wie das Urlaub-
nehmen, die Angst vor den höllischen Strafen und die Vertrautheit mit dem Tod – oder die thema-
tische Umdeutung des Sterbens in weltlichen Spottliedern zeigen Einfluss und Resonanz der Leich-
hüatlieder im alltäglichen Leben.
5 Die Stolordnung enthält die Abgaben an den Pfarrer für Amtshandlungen. Die häufigsten Stolgebühren sind die Tauf-,
Trauungs- und Begräbnisgebühren.
6 „Der grimmig Tod mit seinem Pfeil tut nach dem Leben zielen“ wird in der Literatur als eines der ältesten Totentanzlieder
genannt.
7 Lubica Droppová stellt in ihrem Beitrag „On the Issues of the Comparative Study of Songsheets in Europe“ fest: „… in east
European, some middle European (Poland, Slovakia) and south European countries (Italy, Spain) mostly prevail songs
with religious themes […] in Slovakia there are mainly songs arising from Maria cult, songs about miracles and reve-
lations, songs about the life and martyrdom of Jesus Christ, about martyrs, moralising stories about punished sinners […].“
In: Ingo Schneider (Hg.): Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext. Festschrift für Leander Petzold
zum 65. Geburtstag, Frankfurt 1999, S. 529–537.
8 Franz Wurmbrand (22. 11. 1830–18. 12. 1906), Rotte Steinbüchl / Feistritz a. W., Vorbeter der Pfarre und langjähriger
Bürgermeister der Gemeinde Feistritz a. W., durch seinen Schwiegersohn Karl Nothnagel (14. 3. 1913–27. 1. 1998) – in
denselben beiden Funktionen – weiter verwendet. Im Besitz der Familie Nothnagel-Höller vulgo Kholhoff.
WeXel oder Die Musik einer Landschaft
Das Geistliche Lied, Band 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- WeXel oder Die Musik einer Landschaft
- Untertitel
- Das Geistliche Lied
- Band
- 1
- Autoren
- Erika Sieder
- Walter Deutsch
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79584-1
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 648
- Schlagwörter
- Wechselgebiet, Geistliches Lied: Leichhüatlieder, bäuerliche Tradition der Totenwache, historische Tondokumente, Wörterbuch, Melodienincipits
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- AbkĂĽrzungen 10
- Zum vorliegenden Band 12
- Die Landschaft 18
- Der Totenbrauch 24
- 1. Die Totenwache 26
- 2. Das Begräbnis und das Totenmahl 33
- 3. Das Singen 38
- 4. Das Liedgut und seine Quellen 40
- 5. Die Liedgattungen 47
- Die Sammlung: Lei(ch)hüat- / Leichwåcht-Liadln – Lieder zur Totenwache 59
- Anmerkungen zur Edition der Lieder 60
- Johannes Leopold Mayer
- Zusammenfassung
- Register für das Wechselgebiet und die angrenzenden Regionen in Niederösterreich und in der Steiermark
- Allgemeines Register
- a) Ortsregister 601
- b) Personenregister 607
- Sachregister 613
- Register der Liedanfänge, Sammelorte und Tonaufzeichnungen 618
- Inhaltsverzeichnis und Begleittext zu den beiliegenden Tondokumenten 629
- Sängerinnen, Sänger und Vorbeter der Tonaufzeichnungen 630
- Inhaltsverzeichnis zu den beiliegenden CDs 632
- Autoren und Mitarbeiter 640