Seite - 24 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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dominanten Paradigma zunehmend widersprach, aber nicht dieselbe Breiten-
wirkung entfaltete.
Berthold Viertels lebensbegleitendes autobiografisches Projekt, seine Kind-
heit und Jugend um 1900 zu dokumentieren und zu analysieren, beschrieb die-
sen »self-contradictory jumble«,18 der speziell in den letzten beiden Jahrzehnten
in der Forschung sichtbar wurde. Seine komplexe Abwehr der »österreichischen
Illusionen« – die ebenso von zeitgenössischen »Jung-Wienern«19 wie in der
Schorske schen Forschungstradition produziert wurden – wurde im Boom um
ein zu verklärendes »Fin-de-siècle Vienna« nicht beachtet. Auch das ist ein
Beleg dafür, wie wenig eine idealisierte Wiener Jahrhundertwende mit Vertrei-
bung, Exil und Holocaust zusammengedacht wurde – was auch Steven Beller
wiederholt anmerkte : »There were many Viennese émigrés around after the
Second World War who knew better, […], but they either kept quiet or were
ignored by the larger public.«20
Gerade darum, das 20. Jahrhundert mitzudenken und im Wien um 1900
österreichischen Identitätskonstruktionen und damit den Wurzeln der nachfol-
genden Konflikte und Katastrophen nachzugehen – darum ging es Berthold
Viertel in seinem autobiografischen Schreiben. Er war getrieben von der unbe-
quemen Frage des Goetheschen Mephistopheles »Wie kam’s ? Wie konnte das
geschehen ?«.21 Das erkannten bereits Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser,
die 1990 etwa ein Drittel seiner »autobiographischen Fragmente« im zweiten
Band der Viertel’schen Studienausgabe herausgaben – diese dokumentierten für
sie »eine verloren gegangene Stufe der Emanzipation : eine befreiende Weiter-
führung der Wiener Moderne durch die Auseinandersetzung mit dem Faschis-
mus hindurch.«22 Auch der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler sah Viertel
als Revisionisten der Wiener-Moderne-Klischees : »Der Beobachter Viertel
entzaubert – hier bleibt nicht viel mehr übrig vom heiteren Penälertum, vom
Leben in der großbürgerlichen Familie, vom Schmelz der süßen Mädel.«23
Berthold Viertel forderte – von sich selbst und anderen – nicht weniger als
»eine kritische Überprüfung der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklun-
18 Ibid, 1–19, 15.
19 Bahr, Hermann, Fin de Siècle, Berlin 1891.
20 Beller, Fin de Fin-de-Siècle Vienna, in : Bischof/Plasser (Hg.), Global Austria, 2011, 46–76, 57.
21 Zitiert von Karl Kraus in Die Dritte Walpurgisnacht, vgl. Ganahl, Simon, Karl Kraus und Peter Al-
tenberg. Eine Typologie moderner Haltungen, Konstanz 2015, 27.
22 Bolbecher, Siglinde und Kaiser, Konstantin, Nachwort, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub,
1990, 357–368, 368 und 362.
23 Schmidt-Dengler, Wendelin in »Ex Libris«, 08.12.1991, Audiokassette, o.S., K Überformate 1, A :
Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359