Seite - 31 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Autobiografisches
Schreiben | 31
Gerade seine autobiografische Inszenierung um Scheitern und Missachtung –
mit der er sich gegen die Mainstream-Biografik zu legitimieren versuchte –
band ihn schließlich doch wieder an ein Kollektiv, denn »jedes Sprechen über
eigenes Scheitern oder das anderer Personen ist auch ein Sprechen über spezifi-
sche Verhältnisse von Individuum und Gesellschaft« :56 Berthold Viertel ver-
netzte sich in seinen autobiografischen Akten mit der »Erinnerungsgemein-
schaft« oder (wie er es nannte) »Generation« der »kritischen Moderne« Wiens
um 1900. Diese »kritische Moderne« behauptete sich selbst nie als Gruppe,
Partei oder Schule. Es gab kein Manifest oder Programm ihrer Ideen, doch für
Viertel standen hier ähnlich denkende, oft miteinander bekannte Personen im
Zusammenhang der Opposition zu gesellschaftlichen Verhältnissen. Und dieser
Opposition fühlte er sich zugehörig. In ihrem Umkreis wurden Konventionen
um Normalbiografien missachtet, ein Scheitern an bürgerlichen Normen positiv
definiert und gesellschaftliche Vorstellungen von gelungener Identität so in
Frage gestellt.57 Der Dichter Peter Altenberg – neben Kraus sicher der wich-
tigste Einfluss auf den jungen Viertel – lebte sein »Scheitern« vorbildhaft als
»Selbstpraxis und antikonformistische Lebensform«.58 Und auch Karl Kraus
grenzte sich so ab, wenn er erklärte : »Ich bin größenwahnsinnig : ich weiß, daß
meine Zeit nicht kommen wird.«59
In der Spannung zwischen Größenwahn und Selbstmarginalisierung steht
auch Viertels autobiografisches Projekt. Auch wenn er bereit war, sich selbst
autobiografisch »aufzulösen«, drängte doch die verlorene »kritische Moderne«
zum Erhalt einer Tradition, einer Geschichte und damit auch zum Erhalt von
Schreibkonventionen. Ihre Ideen und Werte wurden zum autobiografisch be-
schworenen »Ideal«, ihre (bei Viertel fast ausschließlich männlichen) Vertrete-
rInnen zu »Heroen«.60 Sie wollte er nach Faschismus61 und Nationalsozialismus
erneut sichtbar und verständlich machen :
56 Zahlmann, Stefan und Scholz, Sylka (Hg.), Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner
Lebensgeschichten, Gießen 2005 ; Etzemüller, Biographien, 2012, 7.
57 Zahlmann/Scholz (Hg.), Scheitern, 2005, 9.
58 Le Rider, Jacques, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien
1990, 150 und 416 ; Ganahl, Karl Kraus, 2015, 165–167.
59 Kraus, Karl, Die Fackel, 261–262 (1908), 8.
60 BV, Café Central [Heft II], o.D. [wahrscheinlich Dezember 1948], o.S., K19, A : Viertel, DLA.
61 Im Gegensatz zu Karl Kraus sprach Viertel in Bezug auf das Dollfuß/Schuschnigg-Regime bewusst
von »österreichischem Faschismus«. Zur wissenschaftlichen Debatte um den Begriff : Wenninger,
Florian und Dreidemy, Lucile (Hg.), Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines
Forschungsfeldes, Wien/Köln 2013.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359