Seite - 33 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Autobiografisches 
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wusst, dass der bei ihm »waltende Mangel an methodischem Erzählen, das
regel lose Herumspringen in der chronologischen Anordnung, die LektĂĽre er-
schwe ren, wenn nicht unmöglich machen wird.« 67
Es muss Spekulation bleiben, wie weit Viertel bei seiner »Methode« geblie-
ben wäre, wäre seine Autobiografie zu Lebzeiten publiziert worden – Verlags-
und Verkaufsinteressen hätten wohl noch einiges verändert.
Generell findet in der Forschung schon längere Zeit eine Ablösung vom engen
Gattungsbegriff der Autobiografie statt,68 doch die Frage des französischen Auto-
biografietheoretikers Philippe Lejeune nach einem »autobiographischen Pakt«
bleibt ein relevanter AnknĂĽpfungpunkt : Lejeune hat die dreifache Namensidenti-
tät von AutorIn, ErzählerIn und HeldIn zur unerlässlichen Voraussetzung für die
Konstitution der nichtfiktiven Gattung Autobiografie erklärt.69 Im Fall von Vier-
tels autobiografischem Projekt ist solche Verbindlichkeit schwer festzumachen :
Manchmal gibt es ein eindeutiges autobiografisches »Ich«, manchmal erhält die
Hauptfigur einen fiktiven Namen und manchmal wechselt Viertel mitten im Text
von der dritten in die erste Person. Da ein Titelblatt und endgĂĽltige ParatexteÂ
– die
für Lejeunes Bestimmungen wesentlich sind – fehlen, liegt kein »autobiographi-
scher Pakt« vor, wohl aber ein »referentieller Pakt«.70 Viertels Unwillen, sich in
Bezug auf seine Person festzulegen, ist dabei in engem Zusammenhang mit den
historischen VeränderungenÂ
– nicht nur der AutobiografieÂ
– im 20. Jahrhundert zu
sehen. Zuletzt kritisierte die Anglistin Anne RĂĽggemeier Lejeunes individualisti-
sche Gattungsdefintion und stellte dieser »in einer Zeit der zunehmenden Vernet-
zung durch digitale Technologien und weltweite Migrationsbewegungen« die
»relationale Autobiografie« entgegen. Nach Rüggemeiers Kriterien stellt Viertels
autobiografische Praxis71 so etwas wie eine FrĂĽhform dieser Gattung dar, denn er
trat in Dialog mit einem kollektiven relationalen Kontext – und damit mit der
offiziellen Geschichtsschreibung –, mit den kulturellen Codes der »konventionel-
len Autobiografie« und nicht zuletzt mit dem Selbst-als-ein-Anderer und den le-
bensgeschichtlichen Herausforderungen der Moderne.72
67 BV, [Mutabor], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 219.
68 Smith/Watson, Reading Autobiography, 2001.
69 Lejeune, Philippe, Der autobiographische Pakt (1973/1975), in : Niggl, GĂĽnter (Hg.), Die Autobio-
graphie : zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1998, 214–257, 215–234.
70 Ibid, 235–256 ; Hanuschek, Sven, Referentialität bzw. Nünning, Ansgar, Fiktionalität, Faktizität,
Metafiktion, in : Klein (Hg.), Handbuch, 2009, 12–16 bzw. 21–27.
71 Der Begriff der autobiografischen Praxis wird derzeit im Wiener Netzwerk Biografieforschung dis-
kutiert, um verschiedene Prozesse und Verbindungen um Auto/Biografien zu fassen. Vgl. Gehma-
cher, Johanna u.a., Käthe Schirmacher : Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler
Frauenbewegung und völkischer Politik, Wien/Köln/Weimar 2018.
72 Vgl. Rüggemeier, Relationale Autobiographie, 63–67.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359