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Methodische  Rahmung  und  Aufbau
In der Befassung mit dem umfangreichen Quellenkorpus wurde rasch klar, dass
Viertel sichÂ
– ähnlich wie sein intellektueller Ziehvater Karl KrausÂ
– oft weniger
mit Dingen selbst als mit »den mannigfaltigen Reden darüber« beziehungsweise
den Erinnerungen daran beschäftigte :92 In seinem autobiografischen Schreiben
unternahm Viertel die doppelte Anstrengung der Rekonstruktion und gleich-
zeitigen Dekonstruktion von Vergangenem, das er bewahren wollte und später
auch für eine Wiederaneignung im Nachkriegsösterreich und anderswo vorsah.
Er wollte »besondere Türen« schaffen, »die in die Vergangenheit […] und zu-
gleich in die Zukunft« führten.93 Fragen nach neuen Lebensformen und den
Entstehungsbedingungen totalitärer Strukturen in der ambivalenten Wiener
Moderne bestimmten dabei seinen Fokus. Seine lebensgeschichtlichen Inhalte
betreffend lag der Schwerpunkt seiner Erzählung auf seiner Familiengeschichte
und in seinen ersten 33 Lebensjahren – bis zum Ende der Habsburgermonar-
chie. Es wurde daher immer klarer, dass Berthold Viertels noch weitgehend
unbehandelte Sozialisation im Wien um 1900 Dreh- und Angelpunkt der Dar-
stellung werden musste.
Es waren, wie ich schon ausfĂĽhrte, weniger Viertels Handlungen, Werke und
Wirkungen, die fĂĽr mich seine wissenschaftliche Behandlung begrĂĽndeten, son-
dern vielmehr ein Interesse an ihm als typischen Repräsentanten eines sozialen
Milieus.94 Wie aber »über die Partikularität des Einzelfalles hinaus und jenseits
des Anspruchs auf Repräsentativität« in einer Biografie menschliches Handeln
als strukturiertes und strukturierendes Tun dargestellt werden kann, ist immer
wieder eine theoretisch und methodisch schwierige Frage.95 Es gibt viele Wege,
aber wenig umgesetzte Beispiele. Mir erschien fĂĽr die Person Viertels die Ver-
bindung von kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung und Biografie als
eine geeignete Methode, Zugriff zu nehmen :
In biografischen Erinnerungsorten wurde dabei individuelle mit kollektiver
Erinnerung (durch die Phasen der österreichischen Geschichte) und mit wissen-
schaftlicher Forschung in Beziehung gesetzt. Pierre Nora verstand den Er in ne-
rungs ort oder »lieu de mémoire« als Kristallisationspunkt kollektiver Erinne-
rung und Identität, in dem eine konkrete und eine symbolische Realität
92 Ganahl, Karl Kraus, 2015, 27.
93 BV, [Danksagung], in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Ăśberwindung, 1989, 201.
94 Gehmacher, Leben schreiben, in : Dreidemy u.a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte, 2015, 1013–
1026, 1023.
95 Tuider, Elisabeth, Diskursanalyse und Biographieforschung. Zum Wie und Warum von Subjektpo-
sitionierungen, in : Forum Qualitative Social Research, Volume 8, No. 2, Art. 6Â
– Mai 2007.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359