Seite - 43 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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rung«.104 Nicht zuletzt ging es mir aber auch darum, Berthold Viertel in die
Erinnerungskultur der Wiener Moderne einzuschreiben, denn weder seine
Person und seine Perspektive noch »Wien 1900« an sich kamen in der Forschung
oder im kollektiven Gedächtnis der ÖsterreicherInnen wirklich an.
In Österreich wurden 2004 nationale Erinnerungsorte auf Basis einer reprä-
sentativen, quantitativen und offenen Meinungsumfrage erhoben.105 Der Sym-
bolhaushalt der ÖsterreicherInnen stellte sich dabei als »erstaunlich« gegen-
wartsbezogen heraus und zeigte eine starke Konzentration auf die Zweite
Republik. So nannten ĂĽberhaupt nur 9 Prozent der Beteiligten die Habsburger-
monarchie als Gedächtnisort.106 Die österreichische Moderne kam abseits des
Namens Sigmund Freud gar nicht zur Sprache und es wurde daraus geschlossen :
Der seit dem 19. Jahrhundert traditionelle Kanon dessen, was die eigene Nation und
den eigenen Staat ausmachte, wurde zumindest in Mitteleuropa schon durch die
großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts schwer erschüttert. […] Geschichte spielt
dabei auf Grund der vielfachen Diskontinuitäten im 20. Jahrhundert als Faktor der
nationalen Selbstvergewisserung kaum eine zentrale Rolle.«107
Das lag nicht zuletzt daran, dass »Wien 1900« eben nur schwer in Form von
nationalen Erinnerungsorten zu erfassen war. Die Habsburgermonarchie war
keine ethnisch-kulturelle Einheit, ihre konkurrierenden Narrative bildeten sich
in einer ausdifferenzierten Erinnerungskultur ab. Gerade im plurikulturellen
Wien gab es eine Vielzahl von »mémoires culturelles« und eine »Wiener« Iden-
tität war meist mehrfach kodiert.108
Solch vielfältige Zugehörigkeiten und Zuordnungen waren aus der nomadi-
schen Situation eines Exilanten/Remigranten wahrscheinlich leichter nachvoll-
104 »Die Erinnerung begleitet jeden Menschen als eine mit ihm wandernde Dimension, deren Funk-
tion vergleichbar wäre dem an der Front eines Automobils angebrachten Spiegel zur Beobachtung
der hinter ihm schwindenden Strecke.« (BV, Memorabilien, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel,
Cherub, 1990, 266).
105 Brix, Emil u.a, (Hg.), Memoria Austriae I. Menschen / Mythen / Zeiten, Wien 2004, 9–25.
106 Ibid., 14.
107 Ibid., 19 und 22. Unterirdisch durchzog die verdrängte Moderne dennoch die österreichischen
Memoria Austriae, die, obwohl auf einer Umfrage basierend, doch wieder von renommierten For-
scherInnen geschrieben wurde : Erinnerungsorte wie GemĂĽtlichkeit, Die Wiener RingstraĂźe, Die
Tschechen oder Der Mythos Habsburger fokussieren stark auf das Wien um 1900 (Brix u.a, (Hg.),
Memoria Austriae, 3 Bd, Wien 2004–2005).
108 Hois u.a., Gedächtnis/Erinnerung und Identität, in : Csáky u.a, (Hg.), KulturÂ
– IdentitätÂ
– Diffe-
renz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck 2004, 215–254, 216–221 ; Csáky, Mo-
ritz, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in
Zentraleuropa, Wien 2010, 205–207.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359