Seite - 56 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Berthold Viertels Faible fĂĽr Luxus in Form von Massagen, teuren Hotels, Res-
taurants und Kleidungsstücken wie auch SekretärInnen und Chauffeure, das
hier und andernorts anklingt, mag erstaunen, ist aber ebenso wie seine Sympa-
thie für sozialistische Ideen in seiner Modernität grundgelegt, deren Innovatio-
nen er gerne annahm. Als diese Wiener oder europäische Modernität 1928 auf
Amerika – speziell auf Hollywood – stieß, bedeutete das tatsächlich eine »Hori-
zonterweiterung ohne gleichen« :
Die Viertels gehörten zu den vielen gebildeten und aufgeschlossenen Euro-
päerInnen, die nur sehr vage Vorstellungen von den USA hatten. Das Land
wurde als Wildnis und »dunkler Erdteil« imaginiert. Die Ankunft in den Mil-
lio
nenstädten New York und Los Angeles, inmitten von Wolkenkratzern und
unvergleichlich viel Verkehr, war insofern, wie vieles andere auch, »neu und
überraschend«. Architektur und Kultur, Landschaften und Mentalitäten versetz-
ten die Viertels in Staunen – mit Verwunderung beobachteten sie die gesell-
schaftlichen Gepflogenheiten um Alkohol (trotz Prohibition), die Bedeutung
des Konsums, des Gangstertums und des »Sex Appeals« – wie auch die Verbrei-
tung von Reklame : »Berthold schrieb die Sprüche über den Läden und auf den
Gebäuden in sein Notizbuch.«22
Seit Mitte der 1920er-Jahre haben sich Arbeits- und NotizbĂĽcher Berthold
Viertels erhalten, die ihn jeweils kürzer oder länger begleiteten, dann oft liegen
blieben und heute sechs Kästen seines Nachlasses füllen. Viertel war keineswegs
ein regelmäßiger Tagebuchschreiber und diese Notizbücher enthalten selten
Aufzeichnungen ĂĽber seinen Tagesablauf. Vielmehr mischen sich darin stich-
wortartige Notizen über Einfälle, Beobachtungen und Gehörtes mit seiner Or-
ganisation des Alltags (Listen, Adressen, Abrechnungen etc.). Nur vereinzelt
finden sich umfangreichere Konzepte, EntwĂĽrfe oder Texte, die dem autobio-
grafischen Projekt zuzurechnen sind. Wie immer durchziehen auch Gedichte
diese NotizbĂĽcher.
Es ging Viertel in diesen Aufzeichnungen vermehrt um eine Art Selbstver-
ständigung, die ihm mit dem Verlassen Europas abhandengekommen war. In
Österreich und Deutschland hatte er nächtelang mit Karl Kraus und anderen
Freunden seine Einfälle diskutiert und das Beziehungsnetz eines geselligen
Menschen gepflegt. Ohne sein gewohntes Umfeld wurden die NotizbĂĽcher zum
sozialen Ort oder »virtuellem Zuhause«, von dem aus das Leben organisiert
wurde.23 Durch sie sollte zumindest einige Ordnung in den »Trubel der Gleich-
22 Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 205–208 ; zum Amerikabild vgl. Prager, Salka Viertel, 2007,
97–98.
23 Gehmacher, Johanna, Pragmatische Verzeichnungen. Zur Intertextualität von Käthe Schirmachers
TagebĂĽchern, Vortrag am Zeitgeschichtetag Graz (Konstruktive Unruhe), 10.Â
Juni 2016.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359