Seite - 66 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Die nostalgische Komponente dieser Perspektive verstörte Viertel. Er fragte sich
nach der Berechtigung seines Projektes und ob es sich »ziemt, solchen privaten
Kleinkram zu überliefern, sei es auch nur in Form persönlicher Aufzeichnun-
gen«, wenn im gleichen Augenblick »Hunderte von Zeitgenossen ihre Autobio-
graphien« schrieben – »als hätten sie nichts Wichtigeres zu bergen aus dem
Wrack ihrer Existenzen.«59 Spätestens ab 1939 ließ er die Arbeit am autobiogra-
fischen Projekt für längere Zeit ruhen.
In Form von short stories versuchte er allerdings, autobiografische Texte ins
Englische zu ĂĽbertragenÂ
– wahrscheinlich auch, weil er zu Lebzeiten nicht mehr
auf ein deutschsprachiges Publikum hoffte.60 Und er begann, die Texte mehr-
fach um- statt weiterzuschreiben.
1939 wurde es fĂĽr Viertel notwendig, Europa endgĂĽltig zu verlassen. Er hatte
schon seit 1936 Probleme gehabt, in London finanziell gesicherter Arbeit nach-
zugehen, obwohl er sich in der jungen Kulturszene durch seine Freundschaft mit
Christopher Isherwood und seine Beziehung mit der Schauspielerin Beatrix
Lehmann gut etabliert hatte. Auch wenn er inzwischen fĂĽr fast alle namhaften
Studios im angloamerikanischen Raum gearbeitet hatte, hatte er sich als Film-
regisseur keinen Namen machen können. Seine Filme sind heute vergessen und
teilweise sogar verloren. Nun erhielt er keine Aufenthaltsgenehmigung mehr
und brach im Mai 1939 nach Amerika auf – nur wenige Monate vor dem Be-
ginn des Zweiten Weltkrieges.
Obwohl Viertel kein »Hitlerflüchtling« im engeren Sinn des Wortes war, weil
er Deutschland schon Jahre vor der erzwungenen Emigration verlassen und sich
in den USA einen möglichen Lebensraum geschaffen hatte, hatten ihn inzwi-
schen nicht nur der Verlust seiner Lebenswelt, sondern auch seine zunehmend
schwierigen Existenzbedingungen anderen ExilantInnen angeglichen und Vier-
tel nannte sich daher einen Exilanten honoris causa.61 Schon in London war er
aufgrund seiner transnationalen Erfahrungen zu einem wesentlichen, hochge-
schätzten Netzwerker der österreichischen und deutschen ExilantInnen-Com-
munity gewordenÂ
– etwas, das ihn dem britischen Home Office suspekt gemacht
hatte. Auch in den USA wurde er rasch zu einem wichtigen Mittelpunkt des
deutschsprachigen Exils – aufgrund seiner Kenntnis der Kultur und Politik des
Exillandes, aufgrund seiner »spezifischen Menschenfreundlichkeit« und weil er
es verstand, »gemeinsame kulturelle Interessen wahrzunehmen, ohne sich über
59 BV, Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 39.
60 BV, Short Stories, K15 und K17, A : Viertel ; DLA.
61 Ab Mai 1940 war »Viertel, Berthold, London. Emigrant« übrigens die Nummer 22 im Personenver-
zeichnis der »Sonderfahndungsliste G.B.« des Reichssicherheitshauptamtes für den Fall der Inva-
sion GroĂźbritanniens.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359