Seite - 71 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Außerhalb
Österreichs
–
Die
Entstehung
des
autobiografischen
Projekts | 71
gestern, schon zu ihrer Zeit ein Anachronismus, wird sich nicht wieder herstellen
lassen. […] Nein, Österreich hat bessere Gewähr zu bieten als das Gänsehäufl und
sogar die Kapuzinergruft : Sie besteht in seinen kritischen und revolutionären Geis-
tern, von denen es eine ansehnliche Reihe besitzt […].76
In der Traditionslinie der kritischen und revolutionären Geister, die in Öster-
reich – auch das betonte Viertel – nie besonders hochgeschätzt worden war,
stand für ihn eine »kritische Modernität«. Ihre Gegenentwürfe waren zu prüfen,
um der Janusköpfigkeit der »deutschen Kultur«, ihren positiven wie negativen
Seiten, gewachsen zu sein. Die kritische »Opposition« Wiens um 1900 begann
also mit all ihren problematischen Aspekten als »Generation« in seinem auto-
biografischen Projekt in den Mittelpunkt zu rücken.
Obwohl eine Rückkehr nach Österreich in den unmittelbaren Nachkriegs-
jahren ein schwieriger und bürokratisch langwieriger Prozess war, war für Bert-
hold Viertel sehr bald klar, dass er jedenfalls nach Europa zurückkehren wollte.77
In der Austro American Tribune von November 1945 war sein Artikel Rückkehr
nach Europa ? direkt neben dem bekannten, weil einzigartigen Aufruf zur Rück-
kehr An die österreichischen Künstler und Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten
des Wiener KPÖ-Stadtrats Viktor Matejka positioniert und nahm auf ihn Be-
zug : Viertel empfand Matejkas Aufruf als »symbolischen Akt« und »Geste« und
erklärte, Österreich wäre in seiner »Umkehr« überzeugender, würde es »alle
durch das Dritte Reich Entrechteten und Beraubten, […] alle verbannten und
geflüchteten Juden« zur Heimkehr auffordern. Bezugnehmend auf Thomas
Manns umstrittene Verweigerung einer Rückkehr nach Deutschland war für
Viertel die »Frage nach Rückkehr« eine persönliche Frage. Wer den »Willen, den
Mut und die Kraft« fühle, »drüben vom Grund aus neu aufbauen zu helfen, als
ein Pionier des zukünftigen Europa«, solle gehen.78
Berthold Viertel, aufgrund einflussreicher Fürsprecher seit März 1944 übri-
gens amerikanischer Staatsbürger79, war 1945 – dem Jahr, das den Frieden
brachte – von der »Prominenz« des deutschen und österreichischen Exils anläss-
lich seines 60. Geburtstages als »Erkenner«, »Prophet« und »Antifaschist« gefei-
ert worden. Im selben Jahr forderte ihn KPÖ-Unterrichtsminister Ernst Fischer
formell zur Heimkehr auf – wegen seiner »hervorragenden literarischen Leis-
76 BV, Austria Rediviva, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 196–198.
77 Embacher, Helga, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945, Wien 1995 ; Prager,
Katharina und Straub, Wolfgang (Hg.), Bilderbuch-Heimkehr ? Remigration im Kontext, Wupper-
tal 2017.
78 BV, Rückkehr nach Europa ?, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 210–214.
79 Stephan, FBI, 1995, 205.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359