Seite - 90 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Viertels 
Rückkehr 
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die 
österreichische 
Moderne
In Auseinandersetzung mit solchen aktuellen Ă–sterreich-Darstellungen be-
gannen sich Berthold Viertels Notizhefte und ArbeitsbĂĽcher immer rascher zu
fĂĽllen. Das autobiografische Projekt trat in seine letzte Phase, nachdem er die
Situation folgendermaßen eingeschätzt hatte :71
Selten ist eine Zeit so glattweg, und mit einem so blutgetränkten Schwamme, von der
Wandtafel der Geschichte gewischt worden, wie diejenige, die ich in diesen Blättern
wieder heraufzubeschwören versuche. Zwei bis auf den Grund der Gesittung zerstö-
rerische Weltkriege liegen zwischen ihr und uns, und der dritte, der dem Ganzen den
Garaus machen würde, scheint vor uns zu liegen. […] Was dicht hinter ihnen liegt,
wollen sie [die ÖsterreicherInnen] vergessen, und sie gebärden sich, als sei es ihnen
bereits gelungen. Was aber etwas weiter, und nicht weit genug zurĂĽckblieb, erscheint
Ihnen vergleichsweise als eine Idylle, die sie nicht mehr fassen und sich nicht mehr
vorstellen können. […] Dieser Schwierigkeit der Übertragung ist sich einer bewusst,
der weder die jĂĽngst vergangenen Greuel, noch was zu ihnen gefĂĽhrt hat, vergessen
kann, und sich dennoch, zur Unzeit, an die unmittelbare Vorzeit erinnert. Dabei fĂĽhlt
er sich wie ein Märchenerzähler, der daran zweifelt, ob er bei seinen Hörern ein eini-
germaĂźen waches Interesse erregt.72
Wie schon in den Notizheften angelegt, ging Viertels autobiografische Erzäh-
lung nun von seiner Wiederbegegnung mit der Stadt der Kindheit in der Nach-
kriegszeit – vom Westbahnhof, den Ruinen, den Flaktürmen – aus.73 Die Ge-
genwart von 1948 wurde mitgedacht. Der »Alte« folgte in der neuen Stadt
seinen alten Wegen und begegnete dabei immer wieder dem »Knaben«. Es
wurde dies das »rundeste« Fragment, in dem Viertels Anliegen und die dazu
ausgearbeiteten Strategien am deutlichsten sichtbar werden. Das Motiv des
Scheiterns trat hier erstmals in den Hintergrund, doch stärker denn je wurden
Generationen einander gegenübergestellt. Möglicherweise hoffte Viertel so,
junge Leute zu erreichen, die ihm einzig als Publikum vorstellbar waren – sie
und kommende Generationen. Denn wer sollte sonst solch eine lebensgeschicht-
liche Auseinandersetzung mit der Wiener Moderne, erzählt aus der Perspektive
eines jüdischen Kindes, lesen wollen und »es sich gar zu Herzen nehmen« ? Die
»verarmten« WienerInnen, die »seltsam reduziert zu sein« schienen, »rettungslos
provinziell geworden in Kleidung und Gehaben […] von der Not, von schlim-
mer Erfahrung roh gezeichnet« ? Bei ihnen war zu erwarten, »dass viele nicht
71 BV, Konzepte in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 292–297.
72 BV, Das Café Central [Heft I und II], o.D. [wahrscheinlich Dezember 1948], o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
73 BV, Die Stadt der Kindheit, o.D. [nach 1949], o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359