Seite - 101 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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aus, fremdsprachige, populäre, »andere« Kulturen einzubeziehen, auch wenn er
grundsätzlich wusste : »Ein Arbeiterkind im Bezirk Favoriten zur selben Zeit
empfand das anders.«7
In Ansätzen versuchte er es immerhin, denn all diese »Kulturen« Wiens um
1900 – in denen er sozialisiert worden war, die er kritisierte, denen er sich aber
»auch als Dissident« zugehörig fühlte8 – waren für ihn keineswegs apolitisch
oder »unschuldig« an den historischen Entwicklungen. Sie waren im Gegenteil
»combative site of identity construction and defense«9 ; hier vermischten sich in
der Auseinandersetzung um Erhalt und Zerstörung gute und schlechte Ideen,
Kulturalismus und Biologismus, Rationales und Irrationales :
Es war das Zeitalter der Kindespsychologie, der Frauenemanzipation, der Verbrecher-
hilfe, der sozialen Fürsorge, des Tierschutzes, der verbesserten Gefängnisse, Irrenhäu-
ser und zoologischen Gärten. […] Der Ruf ›Die Waffen nieder !‹ ertönte, gerade bevor
sie erhoben wurden. Hygiene und Eugenik ; Desinfizierung und Narkose, die Gifte in
den Dienst des Lebens gestellt ; Geburtensicherung und Lebensverlängerung ; Sport
und Diätetik – auf allen Gebieten galt die wissenschaftliche Bemühung […] der für-
sorglichen Betreuung jedes Lebenskosmos.10
Viertels zwei Generationen der Moderne erlebten das franko-josephische Zeit-
alter als Übergangsperiode, in der sich das Verhältnis zwischen dem Josephini-
schen Rechtsstaat und einem traditionell auf dem Gottesgnadentum der Herr-
scherfamilie Habsburg beruhenden Neoabsolutismus nicht nur nochmals neu
ausbalancierte, sondern auch völlig neue Elemente zu integrieren hatte.11 Die
supranationale Staatskonstruktion Ă–sterreich-Ungarn machte in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr konzentriert jene wirtschaftlichen und sozialen
Modernisierungsprozesse durch, die sich in anderen europäischen Ländern teil-
weise ĂĽber zwei bis drei Jahrhunderte erstreckt hatten. Eine neue, beschleunigte
Verkehrs-, Kommunikations- und Medienrealität – die sich in Form von Autos,
Eisenbahnen, StraĂźenbahnen, Telegrafen, Telefonen, elektrifizierten Haushalten,
Wasserleitungen, Kanalsystemen, Zeitschriften oder Kinos präsentierte – stand
sich nur langsam adaptierenden gesellschaftlichen Institutionen, Strukturen und
7 BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
8 BV, Karl Kraus und die Demokratie, o.D., o.S., K13, A : Viertel, DLA.
9 Spector, Scott, Marginalizations. Politics and Culture beyond Fin-de-Sciècle Vienna, in : Beller (Hg.),
Rethinking Vienna, 2001, 132–153.
10 BV, Jahrhundert des Kindes, in : DĂĽnnes beiges Spiralbuch o.D., o.S., K05, A : Viertel, DLA.
11 Shedel, James, Fin de Sciècle or Jahrhundertwende. The Question of an Austrian Sonderweg, in : Bel-
ler (Hg.), Rethinking Vienna, 2001, 80–104.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359