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102 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
Denkweisen gegenüber.12 Wirtschaftlich gelang es Österreich-Ungarn zwar
Industrie mit traditioneller Agrarwirtschaft, die vor allem in den entlegenen
Gebieten dominant blieb, »modern« zu durchmischen,13 es gab aber andere ge-
sellschaftliche und soziale Phänomene, deren »Modernisierung« sich schwieri-
ger gestaltete :
Problematisch war etwa, dass seit dem 18. Jahrhundert der Trend in Richtung
Nationalstaat ging, während in Österreich-Ungarn ein stimmiges, identitätsstif-
tendes Staatsmodell und ein offizieller, leicht fasslicher Name fehlte – jedenfalls
was die österreichische Reichshälfte der seit dem Ausgleich 1867 dualistischen
Doppelmonarchie Österreich-Ungarn betraf. Die Dynastie Habsburg fasste ihr
in diesem Sinn vormodernes Reich als »unsere Völker« oder als »Staatsvolk«, um
den modernen Nationenbegriff zu umgehen.14 Der pauschalisierend gebräuch-
liche Name »Österreich« war eine diffuse »Gefühlsangelegenheit«,15 die für
Viertels »Väter« zwar noch Geltung beanspruchte, für die »Söhne« aber war der
Zusammenhalt der »im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« bald
keine Selbstverständlichkeit mehr.
1867 wurde Österreich-Ungarn in einer Verfassungsreform dem »Epochen-
typ« in Europa angepasst und zur konstitutionellen Monarchie umgestaltet.
Obwohl es sich um Privilegienparlamentarismus handelte und der »Notverord-
nungsparagraph« weiterhin ein Regieren ohne Parlament ermöglichte, ent-
sprach die Monarchie damit den modernen europäischen Verfassungs standards.16
Im österreichischen Reichsrat wurden vorerst die großbürgerlichen, antiklerika-
len Deutsch-Liberalen offiziell in die Regierung berufen. Diese »demokrati-
sche« liberale Regierung bedeutete keineswegs eine Machtergreifung im Sinne
der gescheiterten Revolution von 1848, sondern vielmehr ein Arrangement mit
den vorhandenen Strukturen. Es entstand ein oft kritisiertes Durcheinander von
Liberalismus und Despotismus, das vielen ZeitgenossInnen als kennzeichnend
für die politischen Turbulenzen Österreich-Ungarns in Erinnerung blieb. Wäh-
rend es den Liberalen anfangs zwar gelang, bedeutsame Rechts- und Verfas-
sungsreformen durchzusetzen, wurden ihre Prinzipien Freiheit, Gleichheit und
demokratischer Fortschritt im Laufe der Zeit von der »Generation der Söhne«
12 Kern, Stephen, The Culture of Time and Space 1880–1918, Cambridge 2003.
13 Bachinger, Karl u.a., Grundriss der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1848 bis
zur Gegenwart, Wien 1987.
14 Weinzierl, Erika, Nachdenken über Österreich oder Österreichische Nation 1990, in : Rathkolb,
Oliver u.a. (Hg.), Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990,
75–84.
15 Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 2000, Bd 1, 33.
16 Kroll, Frank-Lothar, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Welt-
krieg, Bonn 2013, 11–14.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359