Seite - 104 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 104 -
Text der Seite - 104 -
 
104  | Erinnerungsorte 
der 
Wiener 
Moderne
der sozialdemokratischen Partei.22 Diese Kontinuitäten erklären, warum sowohl
die Christlichsozialen als auch die Sozialdemokraten fĂĽr Viertel Angelegenhei-
ten der erhaltenden »Väter« blieben. Die rassistische Radikalisierung der Natio-
nalismen hingegen stand auf der Agenda der »Söhne«, die aber eine Traditions-
linie zu den liberalistischen »Vätern« ebensowenig verleugnen konnten.
Das 1867 geschaffene Vereins- und Versammlungsrecht hatte die GrĂĽndung
von modernen Massenparteien ermöglicht. In den letzten zwei Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts begannen also erstmals zwei große Parteien – die christlichso-
ziale und die sozialdemokratische – eine bereits äußerst lebendige Zivilgesell-
schaft weltanschaulich durchzuorganisieren. Parlamentarisch konnten diese
Parteien vorläufig trotz ihrer Stärke kaum wirksam werden. Aber sie begannen
zwei Lager zu formen, die sich entlang wirksamer Konfliktlinien definierten und
organisierten : (Klein-)Bürgertum gegen Proletariat, Säkularisierung gegen ka-
tholische Kirche, Patriotismus gegen Internationalität.23 Bald durchdrangen sie
mit ihren Vorfeldorganisationen, die fast alle Altersschichten und Interessensla-
gen erfassten, die gesamte Gesellschaft. Politische Loyalitäten und Identitäten
bildeten sich. Demokratie konnte sich vorerst nur in Form von Populismus
zeigen, der sich als politischer Stil etablierte.
In Wien trat der Konflikt der Ideologien am schärfsten in Erscheinung. Ein
»Sohn« wie Berthold Viertel erlebte »die sich in dieser Zeit schroff und immer
schroffer herauskristallisierenden Gegensätze. […] Das Wien [Karl] Luegers
[…], aber auch das Wien Victor Adlers […].«24 Auch Stefan Zweig hat ein-
drucksvoll die Panik beschrieben, die diese Massenparteien in ihren ersten
Auftritten – etwa mit dem ersten Maiaufmarsch der geeinigten österreichischen
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1890 – noch auslösten.25
Auf christlichsozialer Seite erzielte der »archetypische Demagoge« und erste
professionelle Politiker Lueger Ende des Jahrhunderts eindrucksvolle Wahl-
siege – auch (aber nicht nur) aufgrund seines aggressiven, antisemitischen Po-
pulismus. Luegers Erfolg wurzelte vor allem darin, dass es ihm gelang, das
Kleinbürgertum an sich zu binden, und dass er sich älterer Traditionen der
theatralen katholischen Politik zu bedienen wusste.26 Berthold Viertel sah in
Lueger bereits einen Lehrmeister Hitlers, während Stefan Zweig noch betonte,
22 Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna, 1981.
23 Kampf um die Stadt, Katalog 361. Sonderausstellung Wien Museum, hrsg. von Wolfgang Kos,
Wien 2010.
24 BV, Die Stadt der Kindheit, o.D., o.S., NK09, A : Viertel, DLA.
25 Zweig, Welt, 1992, 78–81.
26 Boyer, John W., Karl Lueger (1844–1910), Wien/Köln/Weimar 2010 ; Wistrich, Robert S., Socia-
lism and the Jews. The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London 1982,
271–280.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359