Seite - 106 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
Bild der Seite - 106 -
Text der Seite - 106 -
 
106  | Erinnerungsorte 
der 
Wiener 
Moderne
Volksstück die Operette […]. [E]ine neue Zeit, die Zeit der Maschinen und Fabriken,
die Zeit der Börse und der Industrien hatte einen ungeheuren, wirtschaftlichen Auf-
schwung gebracht. Wien war gewaltig gewachsen. Die Mauern um die innere Stadt
[…] waren längst geschleift worden und die neunzehn Bezirke, bis zur Gürtellinie
waren in das Weichbild der Stadt einbezogen worden. Und eine neue Völkerwande-
rung hatte begonnen […], alles strömte von allen Teilen des Reiches her nach Wien,
[…] das nicht mehr nur das prunkvolle Lager des Hofes und seiner Funktionäre, des
Adels und des Klerus, war.31
Eine massenhafte Immigration aus der Gesamtregion – ausgelöst durch mit
Modernisierung verbundenen Aufstiegshoffnungen – verdreifachte die Bevölke-
rung Wiens innerhalb einer Generation und veränderte die Stadt markant.
Wien wurde zunehmend eine plurikulturelle, vielsprachige Stadt, in der sprach-
lich-kulturelle Heterogenitäten sehr präsent waren.32
Die demografischen Veränderungen führten nicht zuletzt zu architektoni-
schen Umgestaltungen des Stadtbildes : Auf den geschliffenen Stadtwällen
entstand die Ringstraße als einer der prachtvollsten Repräsentationsräume Eu-
ropas. Ungeheure Vermögen, die in der Gründerzeit von einzelnen Familien
akkumuliert wurden, finanzierten den Bauboom und seinen wichtigsten Archi-
tekten, Theophil Hansen. Der zusammen mit Hansen die Epoche prägende
Maler und Innenarchitekt Hans Makart dekorierte jenen PalaisbewohnerInnen,
die es sich leisten konnten, ihren neuen Wohnraum theatral und historistisch.
Für jene abseits des »Nobelstocks« blieb die Pracht der Ringstrasse aber »potem-
kinsche« Fassade (Loos).33
Viertels »Söhne« lehnten diese Wiener »Kunstblüte« als ornamental und
verlogen ab. Auf die Theatralik des öffentlichen Lebens, die alle gesellschaftli-
chen Saisonen durchdrang, auf Wien als »großes Theater« und »Wurstelprater«
mussten sie aber irgendwie Bezug nehmen : »Das lebte […], alles immer drau-
ßen, in den Strassen, in den Kaffeehäusern, in den Restaurants, den Kondito-
reien, bei den Bällen, den Premieren, den Rennen, im Nobel- und im Volkspra-
ter, auf den Hügeln vor der Stadt und in den angegliederten Dörfern […].«34
Wiens tatsächliche »Kulturszene« – also jene Leute, die das »Privileg« hatten,
Kultur, »Lebensart und […] Kunst« zu gestalten und zu leben – machte nur ei-
nen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung aus. Und jene »Väter«, die hier bemüht
31 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
32 Csáky, Gedächtnis der Städte, 2010.
33 Hanisch, Ernst, Die Wiener Ringstraße, in : Brix u.a. (Hg.), Memoria Austriae I, 2004, 75–104,
76–77 ; Stühlinger, Harald R. (Hg.), Vom Werden der Wiener Ringstraße, Wien 2015.
34 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA ; vgl.
Broch, Hofmannsthal, 2001, 50 ; Zweig, Welt, 1992, 29–35.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359