Seite - 111 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Karl Kraus’ gesellschaftskritische und sozialethische Zeitschrift Die Fackel –
nicht nur für Viertel das Medium der kritischen Moderne – brachte moderne
EinflĂĽsse aus dem Ausland nach Ă–sterreich und hatte sich das Zersetzen der
österreichischen Illusionen durch ätzende Sprachkritik zum Programm gemacht.
Sie wandte sich gegen Phrasen, Zwischenformen und Kompromisse und griff in
diesem Sinne die Größten und Mächtigsten – Banken, Börse, Kartelle, die kor-
rupte Presse, das Cliquenwesen in der Kunstszene – schonungslos und persön-
lich an. Bei all dem war durch Kraus’ satirisches Geschick nicht zuletzt sehr viel
Humor im Spiel.
Wie von Viertel mit der Erwähnung von John Ruskin und Ellen Key ange-
deutet, fĂĽhlten sich die Wiener kritischen Modernen nicht zuletzt in gesamteu-
ropäische Traditionen eingebunden : Strindberg, Wedekind, Ibsen, Zola, Nietz-
sche, Hauptmann, Dehmel, Dostojewski, Wilde und Hamsun waren fĂĽr sieÂ
– so
Viertel – wichtige »Totengräber« auch der Wiener bürgerlichen Kultur.54
In ihren Werken und ihrem Wirken propagierten diese »Söhne«, die sich
groĂźteils auĂźerhalb Ă–sterreichs vernetzten, die Verbesserung der Lebensum-
stände der Menschen. Eine solche Lebensreform sollte etwa durch bequeme
Kleidung, funktionelle Behausungen, aufklärerische Bildung, eine liberalere Se-
xualmoral, neues Körperbewusstsein und, ebenfalls im Trend, gesunde Ernäh-
rung – aus Tierliebe oft schon Vegetarismus – sowie durch Verbindung zur
Natur erreicht werden. Der Dichter Peter Altenberg – eine einflussreiche Figur
in diesem Kontext und Viertels erstes wichtiges Vorbild – probierte im Wien
um 1900 die Angebote des »Marktes der modernen Lebensweisen« und die
Lebensreform als Prozess der eigenen Optimierung im Selbstversuch aus : »Er
sah die Krise und das neue moderne Leben, die neuen sozialen Welten, die
neuen körperlichen Wahrheiten einer Menschlichkeit, die aus den Corsagen
und Wickelkissen entwich, um an die freie Luft zu kommen.«55
Insgesamt fĂĽhrten solche Haltungen vor dem Ersten Weltkrieg aber keines-
wegs zu aktivem politischen oder sozialen Engagement. In Zusammenhang mit
der Ablehnung von Profitgier und Spekulantentum stand vielmehr ein frĂĽhes
»ökologisches Bewusstsein«, denn nicht nur die Menschen selbst, auch die Natur
und NatĂĽrlichkeit wurden als bedroht erkannt. Insofern wurde der Politiker
Josef Schöffel, der den Wienerwald vor Privatisierung und Schlägerung bewahrt
hatte, zu einem auch von Viertel vielfach erwähnten Helden der »kritisch-mo-
dernen Söhne«.
54 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, S. 103.
55 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA ; vgl.
Ganahl, Karl Kraus, 2014, 119–212.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359