Seite - 113 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Moderne
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Wien | 113
Modernität und Antimodernität hervorgegangen. Das Hauptproblem war dabei
eine durch die neuen Medien und Kommunikationsapparate beförderte Distanz
und die damit einhergehende Gedanken- und Phantasielosigkeit, die zum Ver-
lust der moralischen Kompetenz führte. Das war der Grund, warum er sowohl
modernistischem Fortschrittsoptimismus als auch der konservativen Ablehnung
technischer Neuerungen kritisch gegenüberstand.61
An diesen vielfachen Ambivalenzen der Moderne konnte man als »Sohn«
auch scheitern, wenn man mit seinen Erneuerungsansprüchen zu radikal und
kompromisslos auftrat : Der »unglücklichste Sohn« Wiens um 1900 und damit
»überaus charakteristisch« war für Berthold Viertel der Philosophiestudent Otto
Weininger, der am 4. Oktober 1903 mit gerade 23 Jahren in Beethovens Sterbe-
haus Selbstmord verübte. Dieser Selbstmord erregte auch außerhalb der Wiener
Kreise Aufsehen und in der Fackel war Otto Weininger zwischen Oktober 1903
und März 1904 fast durchgehend Thema. Sein kurz zuvor vollendetes, auf seiner
Dissertation basierendes Werk Geschlecht und Charakter – das nach seinem Sui-
zid zum skandalösen Bestseller wurde – wurde darin als hochbedeutsam geprie-
sen. Die philosophischen und psychiatrischen Wiener Fachkreise fanden das
Buch dubios und viele hielten und halten Weininger als »Inbegriff des Weiber-
feindes, Judenhassers und Keuschheitsapostels« überhaupt für geistesgestört.62
Die »kritischen Modernen« jedoch sahen Weininger als einen der radikalsten
Sozialkritiker, der »die Welt von Grund auf bipolar konzipiert hatte« – ja,
Weininger wurde geradezu zu ihrem Theoretiker und Viertel erklärte :63
Eine faszinierende Erscheinung der Periode […] ist der junge Philosoph Otto
Weininger, der einundzwanzig Jahre alt, ein Buch in die Welt wirft, das eine ähnliche
Aufregung hervorruft wie nach dem Krieg Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹.
Nur handelt es sich bei Otto Weininger nicht um Geschichte, sondern, wie es dem
damaligen Wien entspricht, um Charakterologie, und um aus ihr gezogene radikalste
ethische Forderungen. ›Geschlecht und Charakter‹ bricht mit allem, was Wien so
angenehm macht, vom Walzer bis zur Erotik, und mit jeglichem Lebenskompromiss.
Fanatisch, zelotisch wie ein Kirchenvater, steht der jüdische Student da, alles bis in die
Wurzel zerstörend, was Zuflucht gewährt : die Familie, das Judentum, jede Art von
liebenswürdigem Liberalismus, in jeder Frage. […]. Ihm imponiert nichts, worauf die
moderne Menschheit so stolz ist. Er sieht überall mehr Rückschritt als Fortschritt.
61 Kokoschka, einer der »Söhne« Viertels, fragte in diesem Kontext : »Versteht der Leser, weshalb
ich gegen den Fortschritt bin, aber auch der reaktionären Strömung nicht angehören kann ?« (Ko-
koschka, Mein Leben, 2008, 189.)
62 Wagner, Geschlecht und Charakter, in : Sobol, Weiningers Nacht, 1988, 97–106, 97.
63 Janik, Wittgenstein’s Vienna Revisited, 2001, 37–84 ; BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit,
in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956, 243.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Titel
- Berthold Viertel
- Untertitel
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Autor
- Katharina Prager
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 368
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359